Jens Sundheim und Bernhard Reuss

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Jens Sundheim und Bernhard Reuss

Der Reisende

Wir möchten ein Projekt vorstellen, an dem wir seit 2001 arbeiten: Der Reisende

Das Besondere an dieser Arbeit ist, dass wir das Medium Internet als Kamera benutzen, es als Werkzeug gebrauchen, um über große Distanzen hinweg zu fotografieren. Das Projekt beschäftigt sich mit dem Phänomen Webcams – Kameras also, die an bestimmten Orten aufgestellt sind, um von dort aktuelle Bilder zu übertragen, die dann via Internet betrachtet werden können. Wenn man sich näher damit beschäftigt, stellt man fest, wie erstaunlich weit verbreitet diese Kameras sind. Es gibt kaum noch Orte, wo sie nicht zu finden sind. Die erzeugten Bilder sind von jedem und von überall her am Rechner einsehbar, einen Internetzugang vorausgesetzt. Nun würde man denken, natürlich, das sind Überwachungskameras. Die sind überall. Das ist noch lange nicht begrüßenswert, aber nachvollziehbar. Das Interessante aber ist: Überwachung ist nur eine Motivation unter vielen, Webcams in die Welt zu setzen.

Andere Gründe sind z.B. Werbung und Selbstdarstellung. Aus vielen Rathäusern und Museen blickt eine städtische Cam. Zoos erlauben die Sicht auf Affen, Giraffen und Pinguine. Bauwerke sind zu sehen, öffentliche Plätze und schöne Strände. Auch viele Firmen stellen eigene Webcams auf. Verkaufräume, der Blick auf die Straße, Parkplätze, Werkstätten – das Gezeigte ist vielfältig. Die europäische Raumfahrtbehörde ESA sendet Bilder aus dem Kontrollraum, Maggi aus ihrem Kochstudio. Die Website einer Bochumer Computerfirma zeigt Livebilder eines mannshohen Kaktus, aufgenommen von nicht weniger als vier Kameras gleichzeitig, und im Growroom des Berliner Hanfmuseums lassen sich Hanfpflanzen beim Wachsen studieren. Es hat etwas modernes, zeitgeistiges. Webcams erfreuen sich einer Fangemeinde, auf vielen Webseiten werden Links gesammelt und präsentiert.

Information. Angefangen beim Wetter lässt sich per Webcam außerdem herausfinden, ob auf der vielbefahrenen Bundesstraße 1 im Ruhrgebiet gerade wieder einmal Stau ist, ob die Wellen an der englischen Küste sich zum Surfen eignen oder ein Waschsalon in Straßburg überfüllt ist. Eine Webcam nahe Bonn zeigt den jeweils aktuellen Benzinpreis einer Tankstelle.

Vergnügen. Viele Privatleute haben ihre eigene Webcam. Sie erfreuen sich der technischen Möglichkeiten im Umgang mit ihnen. Dabei zeigen sie die Sicht, die ihnen möglich ist – oft genug den Blick in den eigenen Garten oder auf die Straße vor dem Haus. Das Gezeigte und auch sein Betreiber werden Teil der globalen Welt des World Wide Web. Für uns stellte sich die Frage, wie man diese Technik nutzen kann, um künstlerisch damit zu arbeiten. Da Webcams nun einmal Kameras sind und wir in erster Linie Fotografen, lag nahe: Wir fotografieren damit. Wir bedienen uns dieser Apparate mit dem Ziel, eigenes Bildmaterial zu erstellen.

So entwarfen wir das Projekt Der Reisende. Grundidee ist: Wenn da nun eine Kamera steht, die permanent Bilder ins Internet überträgt, und die dort von jedem einsehbar sind, dann muss dieser Ort, das Gezeigte, enorm wichtig sein. Oder, wie man sagen könnte: sehenswert.

Der Reisende (›dargestellt‹ durch Jens Sundheim) ist ein Tourist, der solch wichtige Orte aufsucht, auf die Webcams gerichtet sind. Schließlich muss es dort ja etwas zu sehen geben. Wir gaben ihm etwas Wiedererkennbares, den schwarzen Gurt einer Tasche auf dem hellen Shirt. Zudem nimmt er beständig die gleiche Pose ein, frontal, den Blick direkt in die Kamera gerichtet. Vor Ort angekommen, postiert er sich im Bild. Der Fotograf (Bernhard Reuss) sitzt am heimischen Rechner und speichert die übertragenen Bilder, die den Reisenden zeigen. Er fotografiert ihn per Webcam. Die Kommunikation erfolgt per Mobiltelefon. Und während die Fragmente der Webcam-Bilder während der Übertragung in kaum noch nachvollziehbaren Wegen durch die Datennetze der Kontinente strömen, nehmen die Audio-Daten noch einmal völlig eigenständige Wege, um den Fotografen zu erreichen.

Als Fotografen sind wir natürlich bestrebt, unser Bild zu gestalten. Bei der Arbeit Der Reisende erfolgt das entscheidend durch den Schritt ins eigene Bild. Über Mobiltelefon erfolgen Rückmeldung und Feinabstimmung, wo genau der Reisende im Bild stehen sollte. Manchmal hat man durch schwenkbare Kameras und die damit verbundene Wahl des Bildausschnitts weitere Gestaltungsmöglichkeiten. Aber nicht alle Begebenheiten vor Ort können kontrolliert und gesteuert werden. Auch das ist Teil dieser Arbeit.

Natürlich taucht die Frage der Bildrechte auf. Wem gehören Bilder, die eine Maschine ohne menschliches Zutun sendet, wurde sie erst einmal eingerichtet. Bilddaten, die vom darauf folgenden Bild überschrieben würden, speicherten wir sie nicht ab. Reicht es zu sagen, da wir Einfluss nehmen auf die Bilder wie beschrieben, sind es unsere? Jeder andere könnte diese Bilder genauso machen, wenn er den Reisenden vor einer Webcam erblickt.

Als letzten Schritt unserer Arbeit werden ausgewählte Webfotografien vom Bildschirm gelöst, kontrastoptimiert und auf Fotopapier ausbelichtet. Dadurch werden sie näher an herkömmliche Fotografien herangerückt. Wir präsentieren die Arbeiten großformatig in Ausstellungen. Spätestens an dieser Stelle wird unsere Autorenschaft deutlich.

Das große Format betont den hohen ästhetischen Reiz der Bilder. Die Eigenart der durch Webcams übertragenen Bilder folgte zunächst rein technischen Überlegungen. Niedrige Auflösung und eine hohe JPEG-Bildkomprimierung wurden gewählt, um eine schnelle und Platz sparende Übertragung zu ermöglichen. Dieser Prozess bringt schließlich Bilder hervor, die eine besondere Schönheit ausstrahlen.

Der amerikanische Medienkünstler Lev Manovich beschrieb den von uns erfahrbaren Raum als »augmented space«, zu deutsch etwa »durchdrungener Raum«. Er beschrieb damit das Phänomen der Vielzahl von Datenströmen, die jetzt in diesen Moment den Ort durchsetzen, an dem wir uns aufhalten. Funksignale, SMS, MMS, Internetzugriffe, um nur einige zu nennen. Man könnte die verrauschten Webfotografien als Möglichkeit betrachten, diese Datenströme sichtbar zu machen.

Unsere Arbeit am Projekt geht meist unbemerkt vonstatten. Ab und zu nehmen Leute wahr, dass da jemand merkwürdig lang in eine Richtung starrt, und schauen etwas irritiert. Angesprochen wurde ich erst zwei- oder dreimal.

Allerdings gab es eine Begebenheit, die uns noch einmal vor Augen führte, dass manchmal doch noch jemand da sitzt, die vielen gesendeten Bildinformationen wahrzunehmen. Als wir am 9. September 2002 aus Pennsylvania kommend noch schnell einige Kameras in New York anfuhren, begab es sich, dass ich vor einer Verkehrskamera stand, bei der im Vordergrund eine Fußgängerbrücke im Bild ist, die über die Straße führt. Dadurch kann man sehr nah an die hoch angebrachte Kamera herantreten, eine willkommene Abwechslung zu vielen anderen Bildern, bei denen der Reisende eher klein im Bild ist. Vor Ort war ich etwas übermütig, stieg noch auf eine kleine Mauer, grinste und winkte in die Kamera. Als sich von Wasserseite ein Polizeiboot näherte, dachte ich, hoffentlich kommt es im Hintergrund mit aufs Bild. Auf der anderen Seite bemerkte ich eine Schar wild blinkender Ambulanz- und Polizeiwagen. Aber erst, als von zwei Seiten etwa ein Dutzend Menschen auf mich zustürmten, dämmerte mir schlagartig, dass diese Leute meinetwegen kamen. Zunächst musste ich den Sanitätern unterschreiben, dass es nicht meine Absicht war, mich von der Brücke zu stürzen. Die Polizisten fanden alle meine Erklärungsversuche offenkundig unglaubwürdig bis suspekt. Sie wussten nicht, dass die Bilder der Traffic-Cams ins Internet übertragen werden, während ich davon redete, dass ein Freund in Deutschland vorm Bildschirm sitzt und diese Bilder aufzeichnet, nur so zum Spaß. Hauptproblem war sicher der Zeitpunkt – der Jahrestag der Anschläge vom 11. September näherte sich, die Stadt war nervös und Polizei allgegenwärtig. Und so wurde ich abgeführt und verbrachte einige Stunden in der Zelle einer New Yorker Polizeiwache. Nachdem mich verschiedene Polizisten und schließlich noch zwei FBI-Agenten befragt hatten, kam ich spätabends wieder frei mit dem Versprechen, »no more webcams«. Während meiner Sicherstellung lief die Verkehrskamera übrigens weiter, so dass dieser Teil sogar fotografisch dokumentiert ist.

Oft werden wir gefragt, warum wir denn den ganzen Aufwand treiben, warum wir denn tatsächlich reisen. Mit Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop wäre es doch ein Leichtes, die Figur des Reisenden als digitale Manipulation in alle möglichen Webcambilder einzusetzen. Zumal die Bilder grob und pixelig sind, das erleichtere es doch ungemein. Das stimmt natürlich. Solche Programme können das. Aber wir möchten nicht zeigen, wozu Computerprogramme in der Lage sind. Wir betreiben ein fotografisches Projekt, bei dem es um eine andere Art des Reisens geht: das Reisen zu Orten, die durch auf sie gerichtete Kameras und deren beständige Bildübermittlung ins Internet eine Ebene globaler Bedeutung erlangen.

Schließlich geht es auch um eine besondere Art Fotografie, bei der Fotograf und Fotografierter unter Umständen tausende von Kilometern voneinander entfernt sind. Dennoch kann fast in Echtzeit fotografiert werden, das Medium Internet fungiert als Kamera. Bei allem Streben der fotografischen Welt nach noch besserer Auflösung und noch größeren Datenmengen erfreuen wir uns besonders an der Schönheit unserer Webfotografien. Auch der Reisende freut sich bisweilen und lächelt. Man muss nur genau hinsehen.

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