Meinen Zugang zur Fotografie fand ich durch das Reisen. Der Reisende ist Flaneur. In seinen Eindrücken und auch seinen Abenteuern bleibt er aber sich selbst der Mittelpunkt. Das macht die mögliche Radikalität seines Blicks aus, begrenzt das Blickfeld aber auch auf den öffentlichen Raum, auf zunächst zufällige Begegnungen mit der Außenwelt und private Beziehungen, die sich daraus entwickeln können. Aber das ist auch eine Beschränkung des Blickfeldes, die ich überschreiten wollte – hinein in soziale Zusammenhänge, die dem Reisenden, dem Flaneur, so erst mal verborgen bleiben.
Das Reisen verändert auch die eigene Person. Zu Hause bin ich ein Mensch mit tausend Terminen – nicht unbedingt sehr offen für neue Erfahrungen. Unterwegs als Reisender in einem fremden Land bin ich offener für neue Themen und Begegnungen.
Der Weg vom Reisenden hin zu dem, der einen Schritt in Themenfelder findet, fand bei mir 1998 auf einer Reise nach Odessa statt. Meine einzige Anlaufstelle in Odessa war eine Hilfsorganisation für Obdachlose, und der Zufall wollte es, dass diese Obdachlosenhilfsorganisation gerade einen Fotografen für eine Ausstellung suchte. Das war für mich die Gelegenheit, Zugang zu einem Thema zu bekommen, welches mir als Reisender so nie hätte glücken können.
Die intensivste Geschichte, auf die ich dort in Odessa gestoßen bin, war die Geschichte des zehnjährigen obdachlosen Zuhälterjungen Sanja, der mit zwei zwölfjährigen Mädchen gearbeitet hat. Ich selber hatte sie nicht getroffen, weil die eine hochschwanger war und die andere im Krankenhaus lag. Entstanden ist keine wirkliche Dokumentation über diesen kleinen Kerl, sondern eher so etwas wie ein psychologisches Porträt. Selbst auf der Schaukel im Vergnügungspark schafft er es nicht, aus sich herauszugehen das schafft er nur beim Al-Capone-Spielen. Diese Geschichte war für mich der Scheidepunkt: Ausgehend vom Reisen von der Fotografie und den Abenteuern in erster Person, hin zu einer Fotografie, die themenorientierter ist und in der sich Abenteuer auf Betriebsunfälle reduzieren. Das Thema und die Konzentration auf die Arbeit treten in den Vordergrund.
Diese Arbeitsweise bringt mit sich, von jeweils konkreten Leuten zurücktreten zu können und zu müssen. Wenn ich nur daran denke, dass ich damals in aller Naivität diesen Knirps Sanja auch noch adoptieren wollte. Am Anfang meiner »Karat«-Arbeit in St. Petersburg brauchte ich, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, manchmal einfach einen kinderfreien Tag. Das Schlimmste war eigentlich die Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit dieser Kinder, denen ich begegnete. Mit der Konzentration auf meine Arbeit konnte ich irgendwann auch von meinem direkten Betroffensein absehen. Dieser Prozess heißt wohl Professionalisierung.
Meine Arbeit aus Sankt Petersburg handelt von Kindern und Jugendlichen zwischen Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und auch Prostitution. Sie spielt viel auf den Dächern der Stadt, auf denen die Kinder und Jugendlichen Obdach finden, auf den Dachböden übernachten können, Platz finden und auch ungestört Drogen nehmen können. Dieses Dachthema hat mich deshalb auch so fasziniert, weil es dieses Ikarus-Thema aufgreift. Sowohl in scheinbaren Freiräumen im fünften Stock über der Stadt scheinbar fliegen zu können, als auch immer dabei abstürzen zu können. Was ich den Kindern von mir geben konnte über meine Aufmerksamkeit hinaus war jeweils eine Einladung zum Essen, und auch die Bilder von unserem jeweils letzten Treffen. Das Wichtigste, was ich mitgebracht habe, war aber einfach viel Zeit, ohne die so ein Projekt in dieser Nähe nicht hätte entstehen können.
Neben dem Inhalt war mir ein weiteres wichtiges Anliegen ein reflektierter Umgang mit dem Medium Dokumentarfotografie. Fotografie über solche Themen ist meist besetzt von Bildern, die von oben herab die Leute als bloße Opfer präsentieren. Im Kampf um die Quote muss man heute Opferzahlen und auch Darstellungsweisen überbieten. Es war mir wichtig, die Kinder und Jugendlichen möglichst als Subjekte in ihren ganzen sozialen Beziehungen und schlicht als Menschen vorzustellen, die genauso Lust haben, sich auszudrücken oder Blödsinn zu machen, wie wir das auch gerne tun.
Es ist mir ein Anliegen, eine vielschichtige Bildsprache zu verwenden, die versucht, der Brandmarkung und der Festlegung der betroffenen Personen auf einen bloßen Opferstatus entgegenzuarbeiten. Es sind Bilder entstanden, die auch in einer Modezeitschrift hätten Platz finden können und so die übliche Bildsprache sprengen.
Parallel zu der Arbeit Karat – Himmel über Sankt Petersburg ist über denselben Personenkreis auch noch eine Porträtserie entstanden. Das Medium der Porträtfotografie, so wie es hier gebraucht wird, abstrahiert von dem Hintergrund, stellt also die Personen von einordnenden und erklärenden Details und Zusammenhängen frei und stellt sie zurück vom Medium der Information. Zu sehen sind Gesichter, denen man entnehmen kann, dass sie unter besonderen Umständen leben, trotzdem bewahren die Gesichter so etwas wie eine Mehrdeutigkeit, die sie nicht vorschnell auf Zuordnungen festlegt. Es ist die Aufgabe der Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich mit solchen Porträts auseinandersetzen, diese Räume dann auch zu füllen.
Bei einem Projekt über Ureinwohner in Sibirien bin ich bei der Realisation des Themas auf sehr viele Klischees gestoßen, denen ich auch selber aufgesessen bin. Nämlich diesen bekannten historischen Diskurs des Ureinwohners als Unschuldigen und Ursprünglichen. Und das gleichzusetzen ist gerade in Zeiten der Ethnisierung des Sozialen eigentlich ein großer Fehler. Das ist ein Prozess, der in vielen Ländern um sich greift, und in dessen Schatten oft große Umverteilungen stattfinden. Auf jeden Fall greift der Unschuldsdiskurs zu kurz, wenn solche, die sich in diesem Prozess als Ureinwohner definieren, Zuwanderergruppen teilweise offen rassistisch entgegentreten. Um in diesem vielschichtigen Prozess nicht bloß scheinbar Ursprüngliches zu reproduzieren und auf, jetzt sage ich mal, einer Ethnopopebene stehen zu bleiben, habe ich mich dazu entschlossen, mir ein neues Thema zu suchen.
Meine aktuelle Arbeit handelt von einer Familie im heutigen Peking, das derzeit von großen Abrissaktionen und Neubauten im Zusammenhang mit Olympia beherrscht wird. Auf der täglichen Hochbahnfahrt in die Stadt bin ich beim Blick aus dem Fenster auf ein großes Abrissgelände gestoßen. Nur wenige Lebenszeichen wiesen noch auf verbliebene Bewohner hin. Ich bin dann dort hingegangen: Manchmal ist es einfacher, als man denkt. Damit der Widerstand der Familie Xiao nicht auf die umliegenden verbliebenen Bewohner und Bewohnerinnen überspringt, hat sich die Baufirma offensichtlich dazu entschlossen, mit Mitteln der Mafia die Familie Xiao einzuschüchtern und zu vertreiben. Die Arbeit ist in Kooperation mit der Familie Xiao entstanden und büßt deswegen, weil es eine Gemeinschaftsproduktion ist, nicht an Authentizität ein – im Gegenteil.
Bezüglich dem Aufgegriffenwerdens meiner Arbeit durch die Medien war ich überrascht, dass ihr von Presseseite weniger Interesse zuteilwurde, als ich vermutet hatte. Das zeigt sich vielleicht am besten am Beispiel des Stern-Magazins und meiner Arbeit Karat: Der Stern hatte mit sehr krassen und brutalen Bildern von Hans-Jürgen Burkhardt das Russlandbild einer ganzen Generation geprägt. Viele Fotografie-Studenten brauchen einen Fotografen, von dem sie sich abgrenzen können – so auch ich. Und das war bei mir Hans-Jürgen Burkhardt. Ich wollte nicht diese Art der Medienberichterstattung reproduzieren. Als ich dann aber meine im Vergleich zu Burkhardt doch sehr feinfühligen und sensiblen Bilder dem Stern vorgelegt habe, wurden die als zu hart abgelehnt. Es stand gerade der 300. Jahrestag von St. Petersburg an und es hatte offensichtlich ein Politikwechsel stattgefunden. Wohl auch nicht ganz zu Unrecht oder nicht nur zu Unrecht. Man hat versucht von dem deutschen Russlandbild wegzukommen, was doch sehr einseitig von Straßenkindern und Alkoholikern auf der einen und Neuen Russen auf der anderen Seite geprägt war.
In welchem Bereich meine Bilder überdurchschnittlich rezipiert wurden, war – womit ich überhaupt nicht gerechnet hätte – im Ausstellungs- und Kunstkontext. Die Arbeit wurde weltweit ausgestellt.
Es ist interessant, wie die Dokumentarfotografie, in einer Zeit, in der der Nachrichtenkontext aktuell eher vom Fernsehen dominiert wird, im Kunst-Bereich entsprechend Raum gewinnt. Auch die Xizhimen-Arbeit, die eine explizit sozialdokumentarische Arbeit ist, wird hier zuerst in einem Ausstellungs- und Kunstkontext veröffentlicht. Das ist ein interessantes Phänomen.
Gut finde ich es, dass ich bisher noch in keiner Schublade verschwunden bin. Die Dokumentarfotografie ist ein Mittelding und schwebt zwischen der Kunst und der Information. Da ist es gar nicht schlecht, weder vollständig in der Kunst- noch in der Nachrichtenschublade verschwunden zu sein.