Das Wort Utopie leitet sich von Thomas Morus' Staatsroman Utopia her, der den Aufbau einer idealen Gesellschaft beschreibt. Auch ich verstehe hier unter ›utopisch‹ eine Vision von einem besseren gesellschaftlichen Leben, das zwar nicht wirklich ist, aber in der Zukunft realisiert werden könnte. Das Buch von Morus hat die Gattung des utopischen Romans hervorgebracht, zu der Visionen vorbildlichen wie auch unmenschlichen Zusammenlebens gehören. Entsprechend unterscheidet man zwischen positiven und negativen Utopien, letztere werden auch als Dystopien bezeichnet. Interessanterweise tauchen dystopische Romane erst nach dem Anbruch der industriellen Revolution auf: Berühmte Beispiele sind Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984.
Es besteht kein Zweifel, dass Fotografien dystopisch sein können, wie beispielsweise die Arbeiten von Ruud van Empel oder Michael Najjar. Auch Dystopien verweisen auf ein besseres Leben, indem sie zeigen, wie Gesellschaften gerade nicht organisiert sein sollten. Ein ähnlicher Effekt lässt sich dadurch erreichen, dass man die negativen Seiten des tatsächlichen Zusammenlebens beleuchtet. Das ist dann nicht Dystopie, sondern Kritik des Bestehenden – ein in der Dokumentarfotografie weithin verbreitetes Verfahren. Aber lassen sich im Medium der Fotografie auch positive Utopien formulieren?
Dazu zunächst ein Blick auf die Sprache der Wissenschaften, die vornehmlich im Gewand von Aussagesätzen auftritt – Sätzen, mit denen sich über die wirkliche Welt behaupten lässt, dass in ihr gewisse Sachverhalte bestehen. Diese Funktion ermöglichen elementare Aussagesätze durch ihre logische Form. Sie setzen sich aus Nominatoren (Ausdrücken, die einzelne Gegenstände bezeichnen, z. B. ›Ludwig XV.‹) und Prädikatoren (Ausdrücken, mit denen sich Gegenständen Eigenschaften zuschreiben lassen, z. B. ›groß‹) zusammen. Ein elementarer Aussagesatz ist genau dann wahr, wenn der Gegenstand, über den geredet wird, auch tatsächlich die Eigenschaft besitzt, die man ihm mit Hilfe des Satzes unterstellt. Entscheidend ist, dass Nominatoren eine Beziehung zwischen Sprache und Welt herstellen. So bezeichnet beispielsweise der Ausdruck ›Ludwig XV.‹ denjenigen realen Menschen, der zwischen 1715 und 1774 König von Frankreich war.
Bei fiktiven Texten ist das anders. In Thomas Manns Erzählung Wälsungenblut findet sich die Formulierung: »Siegmund machte Toilette für die Oper, und zwar seit einer Stunde.« Wenn wir herausfinden wollen, ob diese Aussage wahr ist, haben wir ein Problem – die mit ›Siegmund‹ bezeichnete Person gibt es nämlich überhaupt nicht. Die Erzählung beansprucht gar nicht, etwas über die tatsächliche Welt auszusagen, vielmehr erzeugt sie eine fiktive Vorstellungswelt, mit der sich mögliche Lebensweisen vor Augen führen und beurteilen lassen. Literarische Werke eignen sich hervorragend, um Utopien zu formulieren, da die in ihnen vorkommenden Sätze keinen Bezug zur realen Welt aufweisen.
Das gilt für Fotografien nicht. Ihnen liegt immer eine reale Situation zugrunde, die mit Hilfe fotomechanischer Verfahren konserviert wird. Wie aber kann die kausal erzeugte Abbildung eines realen Weltausschnitts utopisch sein? Wie kann sie ein Bild der Zukunft entwerfen? Das Problem hängt nicht damit zusammen, dass Fotografien Bilder sind. Bereits Jean-Paul Sartre weist darauf hin, dass gerade Bilder projektiv-utopisch wirken können. Jedes menschliche Handeln ist laut Sartre in die Zukunft gerichtet – es bestehe darin, die Welt so zu verändern, dass sie den eigenen Zielen entspreche. Um zielgerichtet in den Lauf der Welt einzugreifen, müsse sich der handelnde Mensch den angestrebten Weltzustand vorher mittels gemalter, gezeichneter oder vorgestellter Bilder vergegenwärtigen. Diese Bilder entspringen jedoch – anders als Fotografien – der Fantasie des Handelnden.
Natürlich können digitale Fotos realer Gegenstände so umgestaltet werden, dass sie nicht mehr zeigen, wie diese Gegenstände tatsächlich aussehen, sondern wie sie in der Zukunft aussehen könnten. Doch lassen sich so auch positiv utopische Fotos erzeugen? Dazu einige Beispiele.
Das erste ist eine um 1900 entstandene Fotografie Wilhelm von Gloedens. Sie zeigt fünf junge Männer, die nackt auf einer Aussichtsterrasse posieren. Mehrere Requisiten verwandeln die Szene in ein Sinnbild der griechischen Antike: die Amphoren, die Säule am rechten Bildrand, das Stirnband des zweiten Jünglings von links und das Leopardenfell (als Attribut von Dionysos ein Symbol für Sexualität). Reiht man das Foto in die Tradition der abendländischen Malerei ein, erscheint es als Darstellung des glücklichen Lebens in Arkadien. Erst die römische Antike, namentlich die Hirtendichtungen Vergils, erfand diesen gängigen Topos. Insofern ist es konsequent, dass von Gloeden seine fotografische Vision vor der Kulisse des Vesuv ansiedelt. Die Bezugnahme auf Vergil zeigt sich aber noch an anderer Stelle: Von Gloeden reiste als Zwanzigjähriger nach Taormina, um dort ein Lungenleiden auszukurieren. Er kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück, denn in Italien fand er neben körperlicher Genesung auch Gelegenheit, seine Homosexualität auszuleben. Kein Wunder, dass er sich die Antike zum Vorbild nahm, das einzige existierende Gegenbild zur viktorianischen Homosexuellenunterdrückung seiner Zeit.
Vor allem Vergils Hirte Corydon, der in Liebe zu dem schönen Alexis entbrennt, wird ihn inspiriert haben. Von Gloedens Arkadien-Vision kann also als Utopie einer Gesellschaft angesehen werden, in der sich die erotischen Wünsche der Menschen zwanglos entfalten dürfen. Allerdings wirkt das Ganze ziemlich verkrampft. Durch die Requisiten und die ausgefeilte, aber gestellte Komposition der Figuren entsteht der Eindruck von schwülem Mummenschanz. Das liegt maßgeblich am gewählten Darstellungsmedium, der Fotografie: Beim Betrachten des Bildes können wir nicht davon absehen, dass hier reale Menschen in Verkleidung abgelichtet wurden. Die Modelle lösen sich nicht in fiktive Gestalten auf, wie es bei einem Gemälde möglich gewesen wäre. Zwar erkennt der Betrachter die Absicht des Fotografen, eine utopische Vision zu kreieren.
Nur wirkt diese Vision etwas lächerlich – ein Makel, der für jede ernst gemeinte Utopie den Todesstoß bedeutet.
Etwas anders verhält es sich mit Boris Ignatowitschs Fotografie Ansicht der Landwirtschaftsausstellung der UdSSR von 1939. Sie verdeutlicht, dass utopische Fotografie neben Menschen auch leblose Objekte als Motive einbeziehen kann. Die bisher aufgezeigten Probleme lassen sich dadurch umschiffen: Ein Gebäude ist immer ein Versprechen, dass das Leben in seinen Räumen besonders gut gelingt. Die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Zukunft, von der Realität des Gebäudes und seiner möglichen Nutzung, gewährleistet hier allerdings das Motiv, nicht die fotografische Darstellungsform.
Neben dem sowjetischen Sozialismus hat auch der deutsche Nationalsozialismus bildnerische Utopien formuliert. Ein Beispiel ist Horst Lehmanns Fotografie des Berliner Funkturms von 1937. Der in leichter Untersicht aufgenommene, von innen beleuchtete Turm, der kraftvoll in den dunklen Abendhimmel ragt, steht symbolisch für die technologische Überlegenheit des NS-Staates. Die geschickt eingefangene Silhouette einer heroischen Plastik im Vordergrund verbindet die technische Konstruktion mit dem Menschen, der seiner Schöpfung stolz und erwartungsvoll gegenübertritt. So entwirft das Foto die Vision einer Gesellschaft, in der Mensch und Technik zu einer harmonischen Einheit verschmelzen. Aber auch hier wird utopische Darstellungskraft mit übertriebenem Pathos bezahlt.
Sicher lässt sich nicht behaupten, dass positiv utopische Fotografie per se unmöglich ist. Die Beispiele haben aber deutlich gemacht, dass dieses Unterfangen immer eine Gratwanderung darstellt. Je klarer der utopische Charakter hervortritt, desto größer ist die Gefahr, dass die entsprechenden Fotos überzogen und unglaubwürdig wirken. Versucht der Fotograf, dieses Problem zu vermeiden, leidet wiederum das utopische Potenzial – ideale Zukunftsvision schlägt dann leicht in kontingente Gegenwartsdarstellung um.
Es gibt allerdings einen Weg, auf dem die Fotografie an der Erzeugung von Utopien mitwirken kann, ohne sich den geschilderten Problemen auszusetzen. Dieser Weg lässt sich am Beispiel des Fotografen Wols umreißen. Wols gelingt es, die eigentliche Stärke aller piktoralen Zeichen zu nutzen. Oberflächlich betrachtet, scheinen Bilder in erster Linie den Blick auf Gegenständliches freizugeben; die Bildtheorien von Husserl, Sartre und Merleau-Ponty haben demgegenüber deutlich gemacht, dass es so einfach nicht ist. Das Bild ist ja nicht die Realität, die es darstellt – es teilt vielmehr mit, wie der Erzeuger des Bildes die dargestellte Welt sieht. Sartre zieht daraus den Schluss, dass man ein Bild nicht wahrnehmend versteht, sondernd vorstellend. Das, worauf es beim Bild ankomme, entstehe in der Fantasie des Betrachters. Einem um 1938 angefertigten titellosen Foto von Wols gelingt das auf besonders raffinierte Weise: Zu sehen sind die Nieren eines Tieres, die auf einem Untergrund in Paisley-Musterung liegen. Die ungewöhnliche Kombination von Objekt und Untergrund lässt den Betrachter seinen anfänglichen Ekel vor den Nieren vergessen. Er beginnt, die Formähnlichkeit zwischen den Nieren und den Blättern des Musters auf sich wirken zu lassen. Auch die Fettfasern in den Nieren erscheinen plötzlich als faszinierende Formen, die ästhetisches Wohlgefallen erzeugen. Die Fotografie von Wols ruft im Betrachter genau das hervor, was Immanuel Kant als ästhetische Einstellung bezeichnet hat: eine Sicht, bei der das praktische Interesse an den Dingen der Welt ausgeschaltet wird.
Auf diese Weise können Fotografien tatsächlich positiv utopisch wirken – nicht, indem sie versuchen, Bilder von einem besseren Leben in der Zukunft zu entwerfen, sondern indem sie die Sichtweise des Betrachters auf die wirkliche Welt ändern. Damit schaffen sie zwar keine konkreten Utopien, aber sie tragen dazu bei, dass sich Menschen darauf besinnen, in welcher Welt sie leben. Und auf dieser Basis können vermutlich einfühlsamere und tragfähigere Visionen entstehen, als es jede vordergründig utopische Fotografie zu zeigen vermag.