Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit und aus künstlerischem Interesse habe ich angefangen die Dokumentation, Interpretation und Inszenierung von Kindern in der zeitgenössischen Fotografie näher zu untersuchen. Kaum ein Zeitabschnitt im Leben eines Menschen ist mit allen äußerlichen und inneren Veränderungen so prägend wie der der Kindheit. Cezanne schrieb 1906 an seinen Sohn: »Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.« Der oft wie in Zeitraffer erlebte Prozess dieser Entwicklung findet seine künstlerische Aufbereitung im Motto der diesjährigen Darmstädter Tage der Fotografie: Jetzt – Die erzählte Zeit.
Was erzählen uns die Künstler, die sich mit dem Sujet Kindheit auseinandersetzen? Die Beweggründe der Fotografen sind vielschichtig und durchaus heterogen. Zum einen wollen sie Einsichten über die Gesellschaft vermitteln. In unserer immer komplexer werdenden Umwelt gelingt es über das leichter zugängliche Thema Kind, auch differenziertere Einsichten über die Gesellschaft zu veranschaulichen. Man gewinnt zum Beispiel Einblicke in die Wertevorstellungen unserer Zivilisation, die eine Jugendlichkeit als höchstes Gut begreift und selbst die Alten medienwirksam zu »jungen Alten« macht, als könne sie dadurch den natürlichen Prozess, wie auf einer gegenläufigen Zeitachse, umkehren. Zum anderen findet der Künstler in der Welt der Kinder das Undeterminierte, eine Ursprünglichkeit, die scheinbar alle Möglichkeiten einer Entfaltung birgt. Dabei verarbeitet der Künstler, durch die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, nicht selten seine persönliche Geschichte und öffnet damit auch für den Betrachter einen Raum der Erinnerung.
In der Position »Fotografie als biografisches Dokument – Vergänglichkeit im Spiegel der eigenen Kinder« erleben wir Zeit im Sinne einer Entwicklung. Vergänglichkeit und eigene Lebenserfahrung thematisiert die amerikanische Fotografin Sally Mann eindrucksvoll in den Fotografien ihrer drei Kinder, die sie von Geburt an in Schwarzweiß-Bildern festgehalten hat. Ihre eigene Kindheit beschreibt Sally Mann als wild und etwas verwahrlost, bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hat sie so gut wie keine Kleidung getragen. In ihren fotografischen Arbeiten provoziert sie mit Situationen, die unterschiedliche Interpretationen zulassen. So beurteilten einige Kritiker die freizügigen Abbildungen ihrer Kinder aus den achtziger und neunziger Jahren als obszön und verwerflich. Gerade vor dem Hintergrund der Missbrauchsfälle in Vertrauensverhältnissen können wir diesen Bildern heute nicht mehr ohne ein Bewusstsein über mögliche innere und äußere Verletzungen an jungen Menschen begegnen. Hier haben die Zeit und die mediale Debatte unseren Blick beeinflusst und verändert. Ihre neuesten Porträts der Kinder, die mittlerweile 22, 25 und 27 Jahre alt sind, erinnern an Totenmasken: Sie wirken alt, verkratzt, in Auflösung begriffen. Dazu sagt Sally Mann in einem Interview: »Ja, sie haben diese Beschaffenheit. Sie sind gequält von unserer Sterblichkeit, wie wir alle. Sie sind sowohl Erinnerung als auch Abdruck.«
Bilder von Kindern, auf denen die Darstellung menschlicher Gefühle im Vordergrund steht, betrachte ich in der Position »Emotion und Fragment – Lachen und Weinen«. Die 1972 in Bielefeld geborene Wiebke Leister zeigt in ihren Fotografien Gesichter und Emotionen, die durch gezielte Lichtführung von der konkret abgebildeten Person abstrahieren. In der Serie »Hals über Kopf« von 2006 ging es ihr nicht darum, einzelne Kinder zu porträtieren, sondern das Lachen selbst zu thematisieren. Doch der Eindruck ist ambivalent. Die aus dem Zusammenhang gelösten Momentaufnahmen rufen bei dem Betrachter nicht nur positive Empfindungen hervor; die Stimmung scheint manchmal kurz davor umzuschlagen.
Bei der Position »Das sich entwickelnde Ich – Dokumentation und Inszenierung spezieller Altersgruppen« werden die körperliche Entwicklung und die damit verbundenen inneren Spannungen thematisiert. Ab 1994 fotografierte Rineke Dijkstra alle paar Jahre das Mädchen Almerisa in einem Asylantenheim. Die Umgebung wirkt steril, Almerisa sitzt verdreht auf dem Stuhl, die sich berührenden Füße setzen auf den unteren Verstrebungen des Holzstuhles bequem auf. Durch die Hinzunahme des Stuhls veranschaulicht uns die Fotografin den äußerlich-körperlichen, aber auch inneren Wachstumsprozess von Almerisa: 1994 schweben die Füße noch 10 cm über dem Fußboden, 1998 kann sie mittlerweile die Zehen aufsetzen, im Jahre 2000 legt sie die Füße schon seitlich ab und 2003 erkennt man ihr gewachsenes Bewusstsein für die eigene Darstellung im Bild: In ihrer veränderten Haltung präsentiert sie nun ihren Körper gerade und aufgerichtet, fast schon posierend für die Kamera. In den Bildern von Paula Modersohn-Becker fand sich, hier mit den Mitteln der Malerei, schon vor hundert Jahren eine ähnliche Auffassung in Ausdruck und Körperhaltung von Kindern.
Zeit als reflektierende oder kritische Beschreibung gesellschaftlicher Zustände erleben wir in der Position »Das Kind seiner Zeit – medien- und sozialspezifische Überlegungen«. In den Fotografien von Tobias Zielony werden Jugendliche in von Arbeitslosigkeit gezeichneten Vorstädten ehemaliger industrieller Ballungsräumen gezeigt, deren Zukunftsperspektiven konträr zu den Erwartungen unserer an Leistung orientierten Gesellschaft stehen. Dem 1973 in Wuppertal geborenen Fotografen geht es dabei weniger um die Dokumentation ihrer Wohn- und Lebensverhältnisse, als vielmehr um ihr Auftreten im öffentlichen Raum. Ihr Leben scheint sinnentleert, in erschreckender Perspektivlosigkeit sieht man die Gangs durch die Straßen von Los Angeles oder Halle ziehen. »Uns ist nicht langweilig. Langeweile ist nur ein Wort für das, was wir sowieso machen« erklärte ein Mädchen dem Fotografen. In »The Opening« von 2005 sehen wir eine junge androgyne Frau und ihren Begleiter am Abend im Auto. Die Beleuchtung der Tankstelle taucht die Jugendlichen in ein warmes Licht. Wie ein goldener Käfig umschließt das angestrahlte Auto – in Analogie zu der modernen Konsumgesellschaft – ihre beiden Insassen. Der Blick durch die Windschutzscheibe führt nach außen, in eine unbestimmte und fragliche Zukunft der Protagonisten.
»Fiktion und Erzählung – Inszenierung neuer Bildwelten«. Durch die Bearbeitung am Bild lassen sich unterschiedliche Zeiten und Orte miteinander kombinieren. Mit den Mitteln digitaler Fotografie erzeugt die 1969 geborene und in Dresden aufgewachsene Loretta Lux fiktive Bildwelten mit Kindern als Hauptdarstellern, wobei sich in der Auswahl der Orte und Bekleidung ihre eigene DDR-Vergangenheit widerspiegelt. Lux platziert ihre Modelle meistens vor einer kahlen Wand und fügt später auf die Kostüme abgestimmte Hintergründe digital hinzu. Die Kinder auf Lux’ Bilder erinnern an verkleinerte, kostümierte Models oder Puppen. Ihre Gesten wirken eingefroren und sie nehmen Posen ein, die wir eher aus der Welt der Erwachsenen kennen. In Anlehnung an Lux' Studium der Grafik und Malerei, erwecken die Posen zusammen mit den Retuschen an Gesichtern und Hintergründen eine malerische Qualität und Künstlichkeit, so dass ihre Bilder manchmal mit historischen Gemälden verglichen werden.
Die in Moskau von Fotokünstlern gegründete Gruppe AES&F provoziert mit Themen und Darstellungen aus der Fantasy-Welt, indem sie Kinder als Synonym für Unschuld und Reinheit in den Kontext von Krieg und Tod stellt. In den digital bearbeiteten Szenen sehen wir Jugendliche in hyperrealen Landschaften, als wären sie der Serie »Star Wars« entnommen, voneinander isoliert, in weißer Unterwäsche und schwere Geschütze tragend. Die Bilder sollen die heute gängige Kriegspraxis veranschaulichen und ziehen Parallelen zu den umstrittenen Videospielen: Der Pilot sitzt abgesondert in seinem Cockpit, bedient diverse Knöpfe und erfährt die direkte Auswirkung seines Handelns nicht. Videospielkritiker merken an, dass diese Entfremdung und herabgesetzte Hemmschwelle per Knopfdruck auch bei Kindern vor dem Bildschirm zu beobachten ist.
Bei dem kanadischen Fotokünstler Jeff Walls erleben wir Zeit als verdichtete Bildschöpfungen, in denen die Bilder auf die Vergangenheit verweisen. Er findet für Kindheit und Jugend vielschichtige Entsprechungen in unserer Gesellschaft. Das Thema der Ausgrenzung erleben wir in der 1989 entstandenen Arbeit »The Goat«, in »War Game« von 2007 versinnbildlicht Wall das Verhalten von Kindern als Spiegelbild unserer Zeit. In dem Werk sehen wir Krieg spielende Kinder auf einem verlassenen Gelände. Ein Junge bewacht mit einem Plastikmaschinengewehr seine toten Gefangenen während im Hintergrund eine weitere Gruppe mit Spritzpistolen nach Feinden sucht. Im Kleinen spielen Kinder ihre Aggressionen aus und führen uns vor Augen, was im Großen in Ländern wie z.B. Afghanistan Alltag ist. Beide Arbeiten nehmen thematisch Bezug auf den dokumentarisch konzipierten Film »Die Vergessenen« von Luis Buñuel aus dem Jahr 1950.
Ende der 80iger verlagerte Wall sein Interesse von der Wahrnehmung realer Ereignisse hin zu der Abbildung subjektiver Innenwelten und Träume. Wall umschreibt seine Hinwendung zum Rätselhaften und Unheimlichen wie folgt: »Ich habe den Eindruck, als habe es schon immer ein Korn Unwahrscheinliches in meinen Bildern und Figuren gegeben. Mein »realistisches« Werk habe ich immer mit geisterhaften Figuren bevölkert gesehen, deren Zustand nicht ganz festgelegt ist. Etwas muss nicht wirklich existieren – existiert haben – um in meinen Bildern vorkommen zu können.« Damit gibt Wall den undeterminierten Räumen kindlicher Phantasie und so auch unserer Vergangenheit ihre Berechtigung zurück.