Seit es Fotografie gibt, wird nicht nur über ihren Kunstwert, sondern auch über ihren Wahrheitsgehalt debattiert. Und immer wieder wird beides in Relation zueinander gesetzt. Dabei hat die Fotografie seit ihren Anfängen Dinge gezeigt, die nicht der Wirklichkeit entsprachen, sie hat unfreiwillig getäuscht und bewusst gelogen, sie hat Dinge sichtbar gemacht, die fürs menschliche Auge unsichtbar waren und bewiesen, dass sie mit Leichtigkeit die Stile der Kunst aufgreifen konnte. Ob Realismus, Impressionismus oder Abstraktion, für die Fotografie war alles möglich.
Skepsis gegenüber ihrem Wahrheitsgehalt wäre also angebracht gewesen, jedoch dauerte es bis ins digitale Zeitalter, dass das Misstrauen gegenüber den Bildern auch im allgemeinen Bewusstsein angekommen war. Nie war es so leicht, Bilder zu manipulieren wie heute und nie war es selbstverständlicher, jedes ungewöhnliche Foto zunächst einmal für eine Bildbearbeitung zu halten. Der Zweifel am Bild aber führte zu neuen Strategien, um eine Authentizität zu behaupten.
Dabei ist die Behauptung einer objektiven Fotografie absurd, die Unterordnung des Fotografen unter eine visuelle Wahrheit schlicht unmöglich. Verfechter der Dokumentarfotografie würden sich ohnehin einen Gefallen tun, ließen sie die Finger vom Begriff der Wahrheit, der impliziert, man könne gesellschaftliche und politische Realitäten mit Hilfe der Fotografie aufzeigen. Bestenfalls deren Auswirkungen können im Bild aufscheinen. Von den oft eindrucksvoll und drastisch dokumentierten Folgen aber Rückschlüsse auf Ursachen zu ziehen, bleibt stets ein spekulatives Unterfangen, denn eine gesellschaftliche Wahrheit ist nie Momentaufnahme, nie Fragment, und sie ist nie scharf, sondern immer unscharf in ihren Konturen und in ihrer Logik. Das erst macht sie so komplex, so erfreulich oder bedrohlich.
Es gibt, so könnte man die Geschichte der Fotografie grob skizzieren, zwei Hauptstränge. Der eine nutzt das Medium, um Gegebenheiten zu dokumentieren, und zwar zum besseren und möglichst unmittelbaren Verständnis der Realität auf der Basis konventioneller Sehgewohnheiten, er erzählt Neues auf eine alte Weise. Der andere durchbricht, unterläuft, sabotiert diese Sehgewohnheiten und erzählt tendenziell Altes auf eine neue Weise. Beide haben ihre Berechtigung, beide sind Fotografie ohne sich dabei wirklich in die Quere zu kommen und beide sind bis heute lebendig.
Der Vortrag zeigt anhand von markanten Beispielen das ambivalente Verhältnis der Fotografie zur Wahrheit als einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.