Ein Querdenker-Symposium ist natürlich prinzipiell für mich grandios, weil es einen größeren Freibrief nicht gibt. Allerdings, wenn man auf einem Querdenker-Symposium quer denken will, muss man eigentlich gerade denken, und das ist für mich sehr anstrengend. Da bin ich mitten im Thema drin, worum es bei Improvisation geht, nämlich um die Frage, was ist überhaupt quer und was gerade.
Ich spiele hier und mache Müll. Und Sie klatschen über den Müll. Das ist hochinteressant für mich. Denn, wie können Sie eigentlich davon ausgehen, dass das, was ich hier mache, in Ordnung ist? Das ist ja noch nicht mal eine Komposition hier, da steht noch nicht mal ein Notenständer, der Sie wenigstens versichern könnte, dass es einen Autor gibt, den man hinterher dafür verantwortlich machen kann, was der nicht mehr ganz so junge Mann hier hingezimmert hat.
Also sind wir gleich bei der Frage, inwieweit kann Musik Sinn machen. Denn Musik steht ja nicht für etwas anderes. Wenn ich sage ein Stuhl, dann meine ich auch einen Stuhl.
Das Interessante bei der Improvisation ist dagegen, dass es die Symbole gibt, Symbole, die existieren, nur Sie sehen sie nicht. Ich hätte es auch so machen, hier ein lead sheet hinlegen können, welches mir Minimalstrukturen oder Minimalmotive vorgibt, so wie wir es zum Beispiel gestern Abend im Konzert gemacht haben. Aber – wie gesagt – es geht auch völlig ohne. Die Strukturen sind alle in mir gespeichert, um abgerufen zu werden. Aber natürlich nicht genau so, wie sie schon immer gespielt wurden, sondern um ein neues Ereignis oder einen Prozess einzugehen. Deshalb, wenn ich jetzt für Sie spreche, improvisiere ich. Etwas Neues entsteht, weshalb ich es auch aufnehmen muss, denn wenn ich es nicht aufnehme, habe ich gar keine Gewähr dafür, dass ich überhaupt da war.
Ich werde jetzt mal erläutern, wie das im Jazz funktioniert.
Wunderkinder kann es nur im Sport und in der Musik geben. Es sind beides Fächer, wo man nichts wissen muss und nicht nachdenken muss. Sie können schon als kleines Kind, wenn Sie begabt sind, unheimliche Mozart-Werke spielen, ohne was über Mozart wissen zu müssen oder darüber, wie die ganze Musik aufgebaut ist. Im Jazz bei der Improvisation ist es genau das Gegenteil. Sie müssen eigentlich immer die Situation im Kompletten im Griff haben.
Es kommt natürlich darauf an, wen Sie jetzt anrufen. Das ist das Interessante beim Improvisieren, das ist nicht unabhängig davon, wen Sie anrufen, mit wem Sie spielen wollen. Denn je nachdem, wen Sie anrufen, wird der etwas ganz anderes daraus machen. Ich meine, das erscheint jetzt für Sie logisch. Aber was für ein Risiko ist das für jemanden, der eine Situation eingeht und sagt, ich weiß ja gar nicht, was er machen wird. Das heißt, es gibt also einen bestimmten Konsens oder ein bestimmtes Vertrauen darüber was aus einem Akkord gemacht wird, was auf bestimmten Erfahrungen beruht.
Das heißt eigentlich, dass ohne Erfahrung dieser Akkord gar nicht möglich ist. Das will ich jetzt nur sagen, um auszudrücken, dass es ein System von den Dingen gibt, die ich dort mache. Und jetzt werde ich für Sie spielen, ein Motiv auf C7, Kreuz11/9, und dann werde ich versuchen mit diesem Motiv zu wandeln, Akkorde zu substituieren und Alterationen zu machen. Und jetzt können Sie sich natürlich fragen, was hat das alles mit Fotografie zu tun. Es wurde ja schon ein bisschen angedeutet: die Frage des Motivs.
Es ist natürlich viel einfacher in einer Gesellschaft, die aufs Visuelle gepolt ist, visuelle Motive zu erkennen oder zu dekonstruieren, als das musikalisch zu erkennen. Das ist wirklich nur eine Bildungsfrage und damit können wir das auch abschließen.
Für mich ist jetzt nur die Frage des Konzepts entscheidend, also dieses Prinzip Improvisation und die Frage, wie gehe ich eigentlich mit einer mehrdeutigen Situation um.
Das Interessante ist, je besser ich improvisieren kann, also je mehr ich über die Situation weiß, je mehrdeutiger wird sie. Je mehr ich ersetze – also rein, raus, runter und, interessant, je größer ich den Raum machen kann, desto mehrdeutiger, also unordentlicher wird dieser Raum. Das ist eigentlich katastrophal. Und deswegen gibt es Improvisation: eine Befähigung, konstruktiv mit Unordnung umzugehen. Ich füge da natürlich immer dazu: »in Gemeinschaft«.
Improvisation ist der konstruktive Umgang mit der Unordnung. Dieser Satz, das erkennen Sie sofort, ist inhaltlich leer. Das ist ein ganz formaler Satz, und das ist auch wichtig so. Weil er eigentlich nur dazu anregen soll, darüber zu reflektieren, was an Säulen in diesem Satz ist. Und für mich sind das die Struktur und die Ordnung. Ordnung ist gleich Form. Und für mich baut sich das Ganze aus diesen drei Parametern auf: Struktur, Form und Funktion. Die Funktion des Satzes ist, darüber zu reflektieren, was ist Struktur, was verwende ich denn hier.
Ein Orchestermusiker spielt unheimlich gut, aber er muss nicht unbedingt die Partitur kennen, das heißt, er muss nicht wissen, was für eine strukturelle Funktion er gerade ausfüllt. Im Sinne von Karajan ist es eigentlich sogar besser, wenn er es nicht weiß.
Und beim Jazzmusiker ist es umgekehrt, denn sonst wäre er handlungsunfähig. Also muss er sich über die Struktur und über die Form im Klaren sein, also Form als Ordnung oder Unordnung, das heißt, und da sind wir eigentlich wieder bei dem Satz, den ich am Anfang gesagt habe: Quer denken, dort wo alle quer denken, wie soll man denn noch quer denken? Denken alle quer, dann ist eigentlichder, der gerade mal gerade denkt, schon wieder ein totaler Querdenker, das heiß quer denken an sich gibt es per se überhaupt nicht, es gibt nichts Gegebenes an sich, sondern es gibt das, was wir interpretieren in einem bestimmten Prozess oder in einem bestimmten Handlungsverlauf. Und das ist bei der Improvisation ganz entscheidend: Dieser Satz soll dazu anregen, zum einen Situationen zu interpretieren, also zu hinterfragen, zum anderen aber auch, sich darüber klar zu werden, dass man interpretiert und nicht Ordnungen als gegeben hinnimmt. Und das mag jetzt für Sie natürlich so sein, ja das machen wir doch sowieso immer, aber es ist leider so, dass tendenziell aus dem Nichts heraus geschaffene Ordnungen sedimentieren. Also in die Verhaltensweisen von Gesellschaften hineinsedimentieren und den Anschein bekommen als seien sie Ordnungen, die an sich existieren.
Das macht die Situation natürlich kompliziert, weil man immer davon ausgehen muss, dass eine Ordnung nicht von sich selbst existiert. Das heißt, sie ist eigentlich performativ oder sozialer Raum ist performativ – und nicht ostensiv. Ordnung existiert nicht als Ding vor sich hin, sondern wir erstellen sie immer mit. Das ist auf der einen Seite totaler Stress, auf der anderen Seite ist es aber der emanzipatorische Charakter von sozialem Raum. Und das ist das, was mich an Improvisation eigentlich interessiert: dass ich Improvisieren als Technologie lerne, um in einem unordentlichen Raum oder was auch immer ich als Unordnung bezeichne, mich im Handeln nicht so weit zu destabilisieren, dass ich nicht mehr handeln kann und deshalb anfangen muss, Ordnungen als natürlich gegeben hinzunehmen, nur um meine Handlungsfähigkeit zu sichern.
Ich habe mich mit einem Neurologen unterhalten, der gesagt hat, ein Mensch hält nicht mehr als eine Stunde Improvisation am Tag aus. Und ich glaube, da ist wirklich etwas Wahres dran und deswegen ist seit Kant auch nichts mehr passiert. Insofern glaube ich, dass die Improvisation, als soziales Phänomen betrachtet, eigentlich so eine Art Zukunftstechnologie des 21. Jahrhunderts ist. Denn wenn ich jetzt hier ohne Noten spiele, dann negiere ich die Leistung unserer ganzen Kultur. Aber bei mir ist es andersherum. Bei mir sind Sie mehr der Zuschauer einer Verfahrensweise. Und das ist, worum es mir geht. Und in der zweiten Linie ist für mich erst Ästhetik oder umgekehrt, ich denke dann Ästhetik weiter, insofern wie es Kant gedacht hat, dass er trennt zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft. Das heißt, es gibt bestimmende Urteilskraft, da wenden Sie Formen an, und es gibt reflektierende Urteilskraft, da wird die ganze Zeit darüber reflektiert, welche Formen man eigentlich wann wie anwendet, und Improvisation ist eigentlich genau das, diese reflektierende Urteilskraft in Realtime.
Improvisation ist der Müll der Industriegesellschaft, die nur deshalb so gut funktioniert, weil alles komplett durchrationalisiert ist und die Abläufe geplant sind. Und Improvisation findet in dem Zusammenhang nur statt, wenn etwas schiefgeht. Der Spruch „Wir mussten improvisieren“ bezeichnet einen Reparationsmodus. Improvisation als Technologie ist Improvisation im Modus 2: Man hat einen Plan, aber man überschreitet den Plan, indem man konstant an diesem Plan arbeitet, um ihn unordentlichen Situationen zur Verfügung zu stellen. Insofern ist es auch schwierig von einem Gelingen zu sprechen, sondern mehr von Haltung.
Wenn ich das Ziel zu eng definiere, dann habe ich einen so engen Korridor, dass ich nicht mehr handeln kann. Es ist genau umgekehrt, wie sonst immer gesagt wird „man kann nur handeln, wenn man Ziele hat“. Bei der Improvisation ist es diametral umgekehrt. Man muss einen offenen Zielkorridor haben und auf der Metaebene nur das Ziel haben, dass man improvisieren will. Die Tatsache, dass man in die Situation reingehen will. Diese Haltung erzeugt eine Art Selbstdisziplin – und das klingt auch wieder paradox.
Das Jazz-Quartett erfordert die totale Verbindlichkeit da zu sein. Nur das Prinzip dieser Verbindlichkeit ist überhaupt nicht verstanden. Das ist der Unterschied zwischen Flexibilität und Improvisation. Während Flexibilität haltungslos ist, kann Improvisation als reflektierter Umgang mit und Verantwortung gegenüber der Situation verstanden werden.