Gibt es ein kollektives Bildordnungssystem, zu dem mit Bildern quergedacht werden kann? Inwiefern kann man Bilder überhaupt konträr zur kollektiven, klischeehaften Verwendung einsetzen?
Seit technische Bilder so unmittelbar als Erkenntnisinstrument verstanden werden und uns – vermeintlich oder nicht – die Welt im Bild erschließen, sind sie nicht mehr nachgeordnet. Sie sind nicht der Spiegel, der uns das Gewesene erneut vor Augen führt. Sie sind vielmehr vorgeschichtlich. Sie werden als gegebene Information verstanden. Sie sind es, die uns Zugänge zur Welt erschließen und damit bereits steuern, wie wir die Welt sehen.
Es ist diese Prämisse, von der ausgehend ich Künstler gewählt habe, die bereits vorhandenes Bildmaterial aufgreifen und dessen Wirkmacht reflektieren. Bereits seit Ende der 60er Jahre sammelt Hans Peter Feldmann Knipserfotografien, Gebrauchsfotos, macht selber welche und fügt sie in kleinen Heften und Publikationen in einem neuen Kontext wieder zusammen, ohne kommentierenden Text. Uschi Huber und Jörg Paul Janka nehmen dieses Vorgehen auf und sind mittlerweile die alleinigen Herausgeber des nach diesem Prinzip konzipierten und von Feldmann mitbegründeten Fotomagazins Ohio. Sie suchen nach fotografischen Fundstücken, nehmen sie aus ihrem Zusammenhang, geben ihnen eine neue Ordnung. Da die Genrezugehörigkeit nicht unbedingt nachvollzogen werden kann, ergibt sich eine Gleichwertigkeit des Bildmaterials. Das Kunstfoto ist nicht per se hochwertiger als das Amateur- oder Pressefoto. Ihrem Kontext entnommen, müssen sie für sich selbst sprechen.
Auch Wiebke Loeper arbeitet mit vorhandenem Bildmaterial. Dabei geht es ihr mit dem Fotobuch Moll 31 allerdings um eine ganz private Geschichtsbewältigung. Ihr Vater ist der Architekt des Hochhauses Mollstraße 31 im ehemaligen Ost-Zentrum Berlins. Nach Fertigstellung, kurz vor der Geburt seiner Tochter 1972, war er mit seiner Familie einer der ersten Bewohner. Damals war dies ein Luxusbau mit Heizung, Badezimmer, Einbauküche und variablen Zwischenwänden. Nach der Wende 1989 wies das Haus erste Mängel auf, 2002 wurde es abgerissen. Vor dem Abriss ist Loeper an den Schauplatz ihrer Kindheit zurückgekehrt und hielt – parallel zu den Familienbildern, die ihr Vater in der Wohnung aufgenommen hatte – den aktuellen Zustand fest. Im Künstlerbuch stehen sich die vergangene und gegenwärtige Perspektive gegenüber, dazwischen liegen manchmal über 20 Jahre.
Moll 31 kann als eine Geschichte über das Altern, über Veränderung und hier im speziellen Fall über einen Identitätsverlust durch den Wandel einer sozialistischen in eine kapitalistische Gesellschaft gelesen werden. Aber es ist auch ein Plädoyer für das Fotoalbum. Es sind die Amateurfotos, die den Charme dieses Buches begründen. Keine der Perspektiven hätte als Einzelbild Bestand, erst die Geschichte gibt ihnen die Bedeutung, die von Wiebke Loeper reflektiert wird. Indem sie von dem Gezeigten durch neuerliches Zeigen Abschied nimmt, führt sie uns die suggestive Bedeutung von Familienbildern vor Augen.
Mit ihrem 2001 publizierten Buch Floh bewegt sich Tacita Dean am Rande einer privaten Spurensuche. Die Fotos sind zwar privat, stammen aber nicht aus ihrem persönlichen Umfeld, sondern wurden von ihr auf den Flohmärkten quer durch Europa und Amerika gesammelt. Mit Floh schenkt Dean der visuellen Erinnerung fremder Menschen neue Aufmerksamkeit. Geschichte wird bewahrt und erzählt uns etwas über die eigene Vergänglichkeit – und auch die eigene Foto—Geschichtsdokumentation. Die Vergangenheit wird zu einer symbolischen Bebilderung unserer eigenen noch nicht visualisierten Gegenwart. Mit Aufmerksamkeit und ohne Ironie lässt uns Floh durch eine Brille des Gedächtnisses schauen, was nichts anderes bedeutet, als dass sie uns zeigt, wie unser eigener Erwartungshorizont von Bildern wie diesen geprägt wird.
Auch das schweizerische Künstlerduo Peter Fischli und David Weiss zeigt Bilder, von denen unser visuelles Gedächtnis geprägt ist. Sie präsentieren einen Überblick über die prachtvollen Dinge des Lebens, die schönen Plätze dieser Welt, die beeindruckendsten Perspektiven und romantischsten Stimmungen. Es handelt sich um seit 1987 aufgenommene Bilder der als Fotoinstallation und Künstlerbuch veröffentlichten Sichtbaren Welt. Fischli/Weiss nehmen ihre Fotografien in unmittelbarer Umgebung ebenso wie auf Reisen auf. Es sind Bilder, die Reisereklamen entnommen sein könnten.
Diese Bilder sind der beste Beweis dafür, dass mittlerweile fast alles zum Bild geworden ist. Bilder westlich zivilisierter Touristen, die fotogene Schauplätze und kalenderblatttaugliche Motive aufnehmen. Ein Blick hinter die Kulissen fehlt. Nichts deutet die Abgründe, menschliches Leid, politische Katastrophen an. Deshalb folgen wir ihnen auch so gerne. Sie zeigen uns die Oberfläche einer lebenswerten Welt.
Es ist uns ein Leichtes, diese Bildsprache zu entziffern, denn sie folgt einem eingängigen, uns bekannten Modus. Und gerade weil wir sie so gut verstehen, sind wir verführt zu glauben, dass das uns Gezeigte tatsächlich die sichtbare Welt ist. Aber natürlich ist das nicht die sichtbare Welt, sondern höchstens eine sichtbare Welt. Sie zeigt bei weitem nicht alles und davon immer nur die Oberfläche. In der von Fischli/Weiss angeführten Sichtbarkeit verbirgt sich ihr Gegenteil. Sie versteckt die Welt hinter einer klischeebefrachteten Perspektive. Trotz der unzähligen Fotos ist das eigentlich Erlebbare nicht abgebildet. Stattdessen stellt sich mit dieser Mischung aus dramatischen und romantischen, aus beiläufigen und interessanten Szenen die Frage, was Bilder überhaupt von der Welt festhalten können, wie und welcher Inhalt transportiert wird. Die Homogenität dieser Bilder und die Bruchlosigkeit in der Präsentationsfolge offenbaren die Absicht, das Konzept. Fischli/Weiss machen sich einen Spaß daraus, uns mit unserer eigenen Erwartungshaltung zu konfrontieren.
Diese Ironie liegt Peter Piller fern. Er ist eher der optimistische Positivist, der Sammler, der ordnend querdenkt. Er hat zum Broterwerb in einer Medienagentur gearbeitet. Sein Job war es, ca. 100 Regionalzeitungen am Tag daraufhin durchzusehen, ob die von den Kunden der Agentur geschalteten Inserate auch wirklich erschienen sind.
Beim Sichten der Blätter stößt er auf ein Foto, das so unspektakulär ist, dass es wieder ungewöhnlich erscheint. Ein Bild, auf dem nichts zu sehen ist, außer Brachland. Wozu auch immer das Zeigen dieser Landschaft gut sein mag, das Bild selbst gibt es nicht preis. Piller fängt an, diese Brachlandschaften auszuschneiden. Heute sind sie zusammengefasst unter dem Titel Noch ist nichts zu sehen.
Peter Piller interessieren diese Bilder als unmittelbarste und sprechende Zeugnisse unserer von den Medien geprägten Gesellschaft. Es sind nicht die großen Agenturbilder, sondern die Bilder, die häufig Amateurbilder sind, aus regionalen Zeitungen, die so etwas wie ›authentische Berichterstattung‹ versprechen und vor allem für die ästhetische Erziehung der Leser verantwortlich sind. Dabei intendiert seine Sammlung nicht eine Kritik an dieser Art Fotografie, vielmehr ist es, wie er selbst sagt, eine Hommage. Es ist eine Hommage an die vielen Bilder, die keiner lesen will, mit denen sich keiner beschäftigen möchte, die aber eine Nachricht visuell untermauern, ihr mehr Realität und Lebensnähe geben sollen. Es geht darum, ertragen zu lernen, dass alles schon da ist, sich der Flut auszusetzen und sehen zu lernen – was, wie Piller sagt: »in unserer zweckgerichteten Verwertungsgesellschaft kaum mehr einer aus(hält)«.
Auch in der Werbeagentur Kesselskramer in Amsterdam beschäftigt man sich mit anonymen Alltagsbildern. Erik Kessels ist u.a. Herausgeber des alternativen Fotomagazins Useful Photography. Angekündigt wird die Ambition für das erste Heft mit den Worten: »Schneide eine Fotografie aus einer Metzgerbroschüre aus, hänge sie über dein Bett und ein Jahr später wirst du immer noch nicht genug von ihr haben. Es sind genau diese Fotografien, mit denen wir täglich konfrontiert sind, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen, die unser Interesse eine erstaunlich lange Zeit fesseln.«
Useful Photography ist eine Hommage an all die Fotografen, deren Namen wir nicht kennen, deren Bilder aber unser visuelles Gedächtnis prägen. Konfrontiert mit der Notwendigkeit täglich innovativ zu sein, Bilder, Sprüche und Darstellungsformen zu finden, die im produktgesättigten Markt auffallen – sprich kontinuierlich querzudenken – kehrt auch die Werbeagentur zurück zu dem, was vermeintlich die Grundlage des sogenannten Mainstream ist, zu den anonymen Gebrauchsfotos.
Die Konfrontation mit entkontextualisierten Bildern wie diesen hat nicht nur zur Folge, dass das Bild unter ganz anderen Kriterien wahrgenommen wird, sie führt zu einer Ahnung, wie unser Bildgedächtnis funktioniert und was wir aufgrund von vorgeprägten Mustern wann für eine Bildästhetik erwarten. Dem privaten Schnappschuss verzeihen wir die Unschärfe, dem Bild im Reiseprospekt nicht. Wenn es um eine aktuelle Nachricht geht, nehmen wir in Kauf, dass der Tatort von den Sicherheitswesten der Polizei oder Feuerwehr überstrahlt ist, einer seriösen Dokumentation ließe man das nicht durchgehen. Es sind diese vielen Kanäle, über die sich ein sogenannter Mainstream speißt. Nicht im Einzelbild liegt die Aussage, sondern in einem Zugang zu einer spezifischen Bildwelt. Sind es nicht auch diese Arbeiten, die das Vorhandene drehen und wenden und uns dadurch die Möglichkeit geben, dem visuellen Rauschen für einen Moment zu entkommen und querzudenken?