Symposium 2008
Querdenker – Vom Kopf an die Wand

Lukas Einsele

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Lukas Einsele

One Step Beyond

Zunächst einmal war ich irritiert über das Thema: Querdenker – Vom Kopf an die Wand … Vom Kopf an die Wand: Diese beiden Begriffe irritierten mich – weniger der Querdenker. Kopf —> Wand ist sehr direkt. Christopher Dell hat es in seinem Vortrag auf den Punkt gebracht: Es geht weder um das im Kopf noch das an der Wand, sondern es geht um den Raum dazwischen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Anfangs ist hier der eigene Kopf und dort die Wand. Zwischen Kopf und Wand, da passiert alles: Gedanken, Ideen, Handlungen, Ereignisse, Begegnungen, aber auch Hindernisse, Umwege, Entdeckungen. Es wird also zunehmend komplex.

One Step Beyond. Wiederbegegnung mit der Mine bearbeitet ein 100-Punkte-Thema, d.h. die Mine ist so schlimm, ihre Ächtung duldet keinen Widerspruch. Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass die Mine schädlich ist, schlecht, böse, schlimm. Aber gleichzeitig war mir von Anfang an klar, dass es dieses Schlimme nicht ist, was mich am meisten interessiert. Der Mensch, das Opfer, ›gut‹ oder zumindest ahnungslos. Die Mine ›böse‹. Wenig befriedigend. Darum ein etwas komplexerer Ansatz: One Step Beyond. Wiederbegegnung mit der Mine – the mine revisited ist ein künstlerisches Projekt, das über Landminen und ihre Opfer berichtet und sie in ein sichtbares, nachvollziehbares Verhältnis zueinander bringt.

Menschen beschreiben mir den Ort des Unfalls so genau wie möglich. Einige von ihnen fertigen eine Zeichnung des Unfallortes an. Die Zeichnung hat nicht nur für uns als Betrachter einen unglaublichen Wert – das authentische Dokument, mit dem uns der Ort des Unfalls gezeigt und damit bewiesen wird – sondern auch für denjenigen, der sie herstellt. Die Zeichnung (aus dem Kopf in die Hand) gibt den Erzählern die Möglichkeit eines neuen Zugangs zu dem sehr Ungeordneten, das die Mine bei ihnen hinterlassen hat.

Die Interviews werden von Dolmetschern geführt, deren Aufgabe es ist, in dem Gespräch nach Bildern zu suchen, nach einer Narration, die wir nachvollziehen können. Im Anschluss an das Gespräch wurden die Menschen von mir mit einer Großbildkamera und Polaroidmaterial porträtiert. Das geschah in erster Linie, damit ich den Erzählern gleich etwas geben konnte, gewissermaßen zum Tausch. Der Tausch als gegenseitige Handlung gibt der Begegnung eine Form und schließt sie gleichzeitig ab. Die Interviews wurden später transkribiert und danach übersetzt, so dass ich sie weiter bearbeiten konnte zu einem Text, der verständlich ist, aber gleichzeitig so nah an der Narration des Berichtenden wie möglich.

Zuerst einmal die Betroffenen selbst: die Menschen, die auf einer Mine verwundet wurden. Als Nächstes stellt sich die Frage, welche Mine das Unglück hätte verursachen können. Für diese Recherche werden verschiedene Quellen benötigt, u.a. Kartenmaterial der betreffenden Regionen oder auch Minenräumer, die uns sagen können, hier in diesem Gebiet haben wir diese Art Minen gefunden. Auch zu wissen, welche Parteien am jeweiligen Konflikt beteiligt sind – wer kämpft hier gegen wen –, hilft bei der Recherche.

Es sind viele Faktoren, die diesen Weg des Menschen auf die Mine ermöglichen, nicht behindern, sondern ermöglichen. Simpel beschrieben stellt One Step Beyond einen sichtbaren und nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen den Menschen und den Minen her. Ganz so einfach, so linear ist das natürlich nicht. Nach dem 11. September 2001 waren Minen plötzlich wieder in aller Munde. Ein 100-Punkte-Thema eben. Man lud mich ein, nach Angola zu reisen, um dort mit den Leuten zu sprechen. In den darauf folgenden Jahren bis 2004 war es mir möglich, nach Afghanistan, Bosnien-Herzegowina und Kambodscha zu reisen. Dazu waren viele Verhandlungen erforderlich, Kontakte mussten geknüpft, Gelder akquiriert werden. Kulturelle Institutionen und humanitäre Organisationen mussten gewonnen werden. Das alles war schon sehr komplex. Dann, auf den Reisen erlebte ich mein eigenes Da-Sein: dass ich nicht nur Minenopfer interviewte, sondern dass ich dort war, mit einer Kamera, einer Großbildkamera, und sehr spezifisch auf das reagierte, was ich erlebte, was ich sah. Sehr bald fotografierte ich eben nicht nur die Minenopfer, sondern auch das, was für mich von ihrem Lebensumfeld sichtbar war.

Für mich war faszinierend, dass ich viele Dinge in einem Bild erst im Nachhinein entschlüsseln konnte, z.B. bei diesem Großbildschnappschuss in Afghanistan: Ein Mann kam aus der Ferne auf der Hauptstraße entlanggeradelt, dann bog er in diesen Weg ab. Natürlich wusste ich, dass die weiße Seite der Steine das sichere, also von Minensuchern geräumte Gebiet, die rote Seite das unsichere, noch ungeräumte Gebiet markierte. Viel später sah ich auf dem Foto, dass ein Acker schon wieder bestellt wurde, obwohl er sich in ungeräumtem Gelände befand. Die Menschen haben Hunger, und die Gefahr zu verhungern oder an Unterernährung zu erkranken, ist wesentlich höher, als dort im Gelände auf eine Mine zu treten. So machen sie sich auf und gehen wider besseres Wissen dort hinein. Die Mine ist für sie ein zumindest kalkulierbares Risiko. Das Bild besitzt eine Art erste Ebene, die man liest und häufig gleich versteht. Später entdeckt man Dinge, bei denen man sich fragt, was sie bedeuten. Es gibt tatsächlich eine Art Ikonografie der Mine, die sich aus diesen Bildern erschließen lässt.

One Step Beyond hat viel mit Unsichtbarem zu tun, die Geschichten berichten über etwas, das nicht mehr sichtbar war, als ich kam. Es geht darum, diese Unsichtbarkeit wieder zurückzuführen in einen sichtbaren, womöglich gar begreifbaren Zustand.

2003 zeigte ich in einer Ausstellung in Freiburg zum ersten Mal einige der Bilder großformatig. Dabei entdeckte ich, dass die Fotos bedingt durch die 4×5-Inch-Technik unglaublich detailreich sind. Sie sind für die Betrachter weitaus komplexere Informationsträger als etwa ein Zeitungsfoto. Dieses hat einen mehr oder weniger genormten Betrachtungsabstand und alle Informationen lassen sich aus diesem Abstand erschließen. Bei den Großformatabzügen sind verschiedene Betrachtungsabstände möglich. Jeder gibt andere Informationen preis.

2004 hatte ich vier Reisen hinter mir, und es war sehr viel Material entstanden, dennoch war mir weiterhin nicht klar, was sich daraus machen ließe. Ich war immer noch nicht wirklich an der Wand, wenn es denn eine gibt – eine Wand. Vielleicht geht es gar nicht darum, eine Wand zu finden.

Es gab nicht ›die eine Wand‹, sondern ich traf mit jeder Präsentation eine andere Situation an und versuchte, mit dem Material so umzugehen, dass es die Betrachter berührt. Die Website zum Beispiel ist auch eine ›Wand‹, ein Medium, das versucht, das Projekt sehr einfach zu erschließen und über die Menge und Vielfalt der Materialien Komplexität herzustellen. www.one-step-beyond.de

Catherine David lud mich ein, im Frühjahr 2005 eine Ausstellung im Witte de With Center for Contemporary Art in Rotterdam zu machen. Es war zum ersten Mal die Möglichkeit, über das gesamte Material zu reflektieren. Relativ schnell wurde klar: Es ist sehr komplex, unter anderem, weil so viele Menschen daran beteiligt waren. Rotterdam war der erste Versuch, das Material im Kunstkontext zu zeigen. Das war die erste ›wirkliche kunstmäßige Wand‹, an der ich mich versucht habe, und deutlicher als in den Präsentationen vorher spürte ich dabei auch die Risiken eines Scheiterns in der Vermittlung der Inhalte. Wie lassen sich die Dimension und die Prozesse beschreiben, die Minen, die letztlich physisch und als Metapher ständig präsent sind in den Bildern und damit hoffentlich auch in den Köpfen der Betrachter? In einem Raum der Ausstellung zeigte ich zum Beispiel eine der Unfallzeichnungen als Anamorphose, die Zeichnung der Angolanerin Rebecca Mujinga. Wenn man den Raum betrat, befand sich das Porträt und die Geschichte Rebeccas an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite, genau auf dem Punkt der Zeichnung, wo Rebecca verunglückt war. Wenn man von dort zum Ausgang dieses Raumes ging, chloss sich das Bild durch die perspektivische Verkürzung zu einer Anmutung, die dem entsprach, was Rebecca gezeichnet hatte. Diese Arbeit war für mich ein Versuch, etwas anderes als nur intellektuelle Erschütterung hervorzurufen.

Danach entstand das Buch, eine völlig andere ›Wand‹ – prädestiniert für Text. Endlich war es möglich, nicht nur die Geschichten der Minenüberlebenden zu zeigen, sondern auch andere Menschen zum Thema zu befragen. Zehn Autoren setzten sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Mine auseinander. Im Buch sollte die Komplexität des Themas erhalten bleiben, so dass sich den Lesern nicht alles auf Anhieb erschließt, sondern sie erst über eine längere Auseinandersetzung die verschiedenen Facetten entdecken und womöglich verstehen. Das verhält sich ähnlich wie mit der Improvisation im Jazz. Christopher Dell fühlt sich in dieser Musik zu Hause, wir hingegen halten es zuerst einmal für chaotisch oder zumindest schwierig. Wenn man sich aber hineinvertieft, wird es strukturierter, nicht unbedingt einfacher oder verständlicher, aber es bekommt eine Struktur und das Zurechtfinden in der Struktur ist eine Handlung. Ich als Betrachter verhandle mit dem Objekt, mit der Performance, ich arbeite mich da hinein. Ich erlebe die Welt über mein Tun, mein Handeln. Handlung, das ist, glaube ich, der Kernpunkt. Wie gelingt es mir, einen Impuls zu setzen, dass die Menschen beginnen zu handeln?

Ein ganz wesentlicher Teil des Projektes ist es, wieder dorthin zu zurückzukehren, wo die Materialien entstanden sind, und es nach Möglichkeit denjenigen zu zeigen, die am Produktionsprozess beteiligt waren. Dazu gab es bisher ein zweites Buch und eine erste Ausstellung in Kabul. Damals, im Frühsommer 2007 nach den ersten großen Attentaten inmitten Kabuls, war die Situation sehr angespannt. Zur Eröffnung kamen dennoch relativ viele Menschen. In einem Mausoleum wurden die Porträts und einige Farbfotos gezeigt. Es gab Führungen von Mitarbeitern einer Minenräumorganisation, denen die Erzählungen der Minenüberlebenden bekannt waren.

Es kamen sogar einige der Porträtierten. Dennoch war es ein extrem privilegierter Rahmen, in dem alles stattfand, und erfüllte damit meine Erwartungen an die Rückführungsausstellungen nicht.

Um am Ende noch einmal zurückzukommen zu »Kopf und Wand«: Es hat schon etwas miteinander zu tun. Ich weiß zwar immer noch nicht genau was, weil mich die Zonen dazwischen mehr interessieren. Es muss gelingen, mit den Bildern nicht nur die Wand zu berühren, sondern auch die Menschen, die sie betrachten.

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