Symposium 2008
Querdenker – Vom Kopf an die Wand

Adi Hoesle

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Adi Hoesle

Von Kyjov über Peking nach Paris

Ich möchte euch heute den Maler, Zeichner und Fotografen Miroslav Tichy vorstellen. Er lebt, bis vor ein paar Jahren unbeachtet, in der südmährischen Stadt Kyjov, wo er als Sohn einer Schneiderfamilie Anfang 1926 geboren wurde. Nach dem II. Weltkrieg studierte er an der Prager Kunstakademie Malerei. Er war ein manisch-obsessiver Zeichner. Es gibt Hunderte von Zeichnungen aus dieser Zeit und auch noch aus den fünfziger und sechziger Jahren. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 gerät er schnell in Konflikt mit dem politischen System, das auch die Kunstakademie unterwandert hatte. Stil, Form und Inhalt seiner Bilder waren mit der herrschenden Ideologie und den Vorstellungen der Repräsentanten der Macht nicht vereinbar. Im Rahmen des kommunistischen Fünf-Jahres-Planes erwarteten und forderten diese von den Künstlern Kunstwerke, die die Staatsideologie stabilisieren und dem Proletariat näher bringen sollte. Durch diese Unvereinbarkeit zwischen eigenem und fremdem künstlerischen Anspruch wurde Miroslav Tichy mehr und mehr zum Außenseiter, durchaus auch zum selbstgewählten, denn im Rückzug fand er auch eine Option der Freiheit. Allerdings bewahrte er sich eine sehr kämpferische Grundhaltung. Tichy sagte einmal: »Ich bin ein Samurai, mein einziges Ziel ist es, den Feind zu töten.« Der Begriff »Feind« ist hier ambivalent zu verstehen: Einerseits politisch-gesellschaftlicher Natur, andererseits bezieht er ihn auch auf seine eigenen psychischen Probleme, gegen die er immer wieder angekämpft hat. Anfang der sechziger Jahre, längst wieder zurück in Kyjov, hörte er abrupt mit der Malerei auf, um sich dem Medium der Fotografie zuzuwenden. Mit der gleichen manisch-obsessiven Art und Weise, ja vielleicht noch extremer in seiner Produktionsdynamik hat er fast ausschließlich in einem Umkreis von rund 5 Kilometern in und um Kyjov mit selbstgebauten Kameras fotografiert. Wie ein Streuner war er von frühmorgens bis in den Abend hinein unterwegs. Nachts hat er dann in seinem Atelier im Innenhof des elterlichen Hauses die Filme entwickelt und verschiedene Abzüge gemacht.

Um den Fünf-Jahres-Plan ganz »pflichtgetreu« zu erfüllen, hat er tagtäglich ca. 100 Fotos geschossen. Mehr als 30 Jahre lang ergibt das etwa eine Summe von 30000 Fotos. Davon ist allerdings nur noch ein kleiner Prozentsatz von rund 3000 Fotos erhalten, der größte Teil wurde von ihm selbst zerschnitten, verbrannt, von den Mäusen angefressen, vom Regen zerstört oder ist einfach verschwunden! Worum ging es ihm in seiner Kunst, welche Themen haben ihn beschäftigt, was waren seine Motive?

Ich möchte sagen, es ging ihm um eine Kalibrierung von Wirklichkeit, nicht von Realität. Er beschäftigte sich mit dem, was in unserer und in seiner Welt wirkt. Mit dem, was auf ihn eine Auswirkung hat, was ihn bewegt, und das war der menschliche Körper, fokussiert und verdichtet im weiblichen Wesen. »Ich habe vergrößert, was der Welt ähnlich sah, aber was ist die Welt? Wenn ich fotografiere, denke ich nichts. Nichts was ich denke oder fühle, nehme ich ernst, es ist für mich ein Spiel wie Kartenspielen«, so Miroslav Tichy. Für Tichy ist die Kamera, die er auf das Motiv richtet, der verlängerte Arm seiner Idee. Das, was sich vor der Kamera bewegt, ist das Motiv als Teil der Wirklichkeit, die den Künstler in seiner Vorstellung, seiner Fantasie bewegt – letztendlich ist es die Motivation für sein künstlerisches Schaffen. Sein bevorzugtes Motiv war die Frau, das hatte sich bereits in seiner Malerei abgezeichnet. Von seinem zeichnerischen und malerischen Grundinteresse löst er sich weiterhin nicht, auch nicht in der Fotografie. Signifikant sichtbar in den um die Fotos herum oft prächtig verzierten, gezeichneten und gemalten Rahmen. Teilweise werden frühere Motive wie das Ölbild der kauernden jungen Dame in der Fotografie noch einmal umgesetzt. Und wo nötig, wird auch mit Bleistift oder gar mit einem Kugelschreiber direkt ins Foto gezeichnet, überbelichtete Stellen korrigiert, unscharfe Linien nachgezogen oder Kopf und Haare ›ausgebessert‹.

Ein zentraler Gegensatz zum klassischen Anspruch der Fotografie ist, dass Tichy auf das Fehlerhafte in seiner Fotografie setzte. Tichy dazu: »Der Fehler, der Fehler – das ist es, was Poesie ausmacht, der Fehler gibt dem Foto die malerische Qualität. Und dafür brauchst du eine schlechte Kamera!« Und: »Wenn man berühmt sein möchte, muss man nur etwas ganz schlecht machen, schlechter als letztendlich alles andere in der Welt.« Auf Kriterien wie Schärfe als ästhetisches Gestaltungsmittel hat er in keiner Weise Rücksicht genommen, ähnlich der Unschärfe in der Malerei Gerhard Richters. Es gibt eine Aussage von Harald Szeemann, wo er auf ein Foto von Miroslav Tichy in der Ausstellung im Kunsthaus Zürich zeigt und sagt: »Ein sehr guter Richter.« Tichy schaute, wie er sagt, nie durch den Sucher, weil er die Bilder bereits im Kopf hatte. Das Drücken des Auslösers war wie das Ticken der Uhr, wie ein Laufenlassen und Verstreichen der Zeit. »Fotografieren war für mich wie eine Schwalbe im Fluge zu erschlagen.« Und seine Fotoapparate schauen zum Teil tatsächlich aus wie ein Gewehr oder Schlaginstrument mit ihren selbstgebastelten Objektiven.

Ich bin der Meinung, Tichy ging sehr konzeptuell vor, denn ist nicht sein ganzes Repertoire, Kameras, Objektive, Entwicklungsgerätschaften als Teil seiner Kunst zu betrachten? »Alles ist Kunst!«, so Tichy.

Im Lauf der Jahre zog sich Miroslav Tichy noch mehr in seinen eigenen Kosmos zurück – in den Tichy Ocean, wie wir immer zu sagen pflegen. Er mied bald jeden Kontakt zur Außenwelt, hatte keine Freunde mehr, war oft betrunken, saß oder lag nachts vor dem Fernseher und hat Bilder wahllos vom Monitor abgelichtet.

Auf das Thema des Symposiums Querdenker – Von Kopf an die Wand bezogen, möchte ich bei Tichy sagen: Vom Kopf auf den Boden. Denn letztendlich landete fast jedes Foto, das er in den Händen hielt, auf dem Boden. Er trat darauf und darüber, als wären die Fotos nichts wert oder gar nicht vorhanden. Um sich und das Werk in eine autarke Position hineinzu manövrieren, löste er sich nicht nur materiell, sondern auch mental sukzessive vom eigenen Werk und damit das Werk auch von ihm.

In diesem Kontext hat er etwa 30 Jahre lang bis in die neunziger Jahre gearbeitet. Dann sagte er: »Ich habe alles fotografiert, was es zu fotografieren gibt«, und hat aufgehört zu fotografieren.

Glücklicherweise hat Roman Buxbaum die hohe Qualität des Werkes erkannt, während er ihn über Jahrzehnte bald monatlich besuchte, und hat, was zu retten war, gerettet. So konnte doch eine relativ umfangreiche Menge an Zeichnungen, Ölbildern und Fotografien gesichert, konserviert, inventarisiert und in die Stiftung Tichy Ocean überführt werden.

Wie ging es weiter mit Tichy und seinem Werk, nachdem er seine ›aktive Laufbahn‹ beendet hatte? Ein entscheidendes Erlebnis war der Besuch von Arnulf Rainer im Jahr 1992, der für seine Art-Brut-Sammlung einige Werke kaufen wollte. Miroslav Tichys abschlägige Antwort lautete: »Nein, ich verkaufe nichts, wozu soll ich verkaufen, ich habe nie verkauft, alles, was ich an einem Tag brauche, sind ein paar Kronen für Zigaretten und Sliwowitz.« Der Diskurs dauerte an und Arnulf Rainer wurde immer nervöser, bis ihm Miroslav Tichy einen Tausch anbot: eine Arbeit von ihm gegen eine Arbeit von Arnulf Rainer. Arnulf Rainer fertigte ihm sofort und vor Ort eine Übermalung eines Frauenbildes an, und Tichy schenkte ihm eine schöne Fotografie. Sie tauschten 1:1 Werk für Werk. Arnulf Rainer trug die Arbeit stolz nach Hause, Tichy dagegen hat das übermalte Blatt genommen und einfach auf den Boden geschmissen. Dies war wohl seine erste und wichtigste Begegnung mit dem zeitgenössischen Kunstmarkt und ein Schlüsselerlebnis für ihn. Es sollte aber noch mehr als 10 Jahre dauern, bis es zu einer Tichy Ausstellung kam. Grund dafür war letztendlich eine stille Vereinbarung zwischen Roman Buxbaum und Miroslav Tichy, der nirgendwo ausstellen und keine Arbeit zeigen wollte. Es gab nur eine Ausnahme, wie Tichy immer wieder sagte und noch heute schmunzelnd bemerkt: in Peking. Deswegen der Titel meines Vortrages von Kyjov über Peking nach Paris – und niemand weiß bis heute, warum gerade und nur in Peking.

Und nun am Anfang des 3. Jahrtausends? Das kapitalistische System, der Kunst-Markt, greift ihn an wie vorher auch das kommunistische. Man hat ihn, bedingt durch die Adelung von Harald Szeemann und die erste große Ausstellung im Kunsthaus Zürich 2006, vermarktet. Das System hat sich ihn einverleibt. Um noch einmal auf die Frage nach Tichys Definition von Kunst zurückzukommen: »Ich glaube nichts und niemandem – und am wenigsten glaube ich mir selbst.« »Alles ist eben Zufall!« – »Kunst ist eine Vorstellung, eine Idee, ein Traum.«

Es ist unser Traum, dass das Werk von Tichy nach Tschechien zurückkehrt in ein zu gründendes Museum. Ziel ist es, einen lebendigen Ort zu schaffen. Viele Künstler würden sich freuen, dorthin zu kommen, um vielleicht ein halbes Jahr nichts zu produzieren. Ganz im Sinne Tichys: »Alles, was ich machen musste, habe ich gemacht!«

Zwischenzeitlich wurden die Fotos von Miroslav Tichy nicht nur in Brünn, New York oder Frankfurt gezeigt, sondern auch in Peking, Paris …

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