Meinen Zugang zu der Fotografie, insbesondere des Porträts, fand ich über das Interesse an den Menschen. Nachdem ich nun aber viele Menschen porträtiert hatte, stieß ich immer wieder an Grenzen, die sowohl in der Technik der Fotografie als auch in meinem moralischen Empfinden begründet lagen und die mich zwangen, einen anderen – meinen Weg einzuschlagen. Ich hatte Skrupel und fragte mich, ob und mit welchem Recht ich festlegen dürfe, auf den einen entscheidenden Moment des Fotografierens zu warten und zu behaupten, dass das entstandene Porträt dann tatsächlich die Person repräsentiere. Heutzutage rührt das Foto als Resultat doch eher von einer mehr oder weniger geschickt forcierten Selbstinszenierung her und bildet vielmehr ein Wäre ab als ein Sein. Auch behagte mir die strikte Trennung und Aufteilung des Fotografen als den aktiven Part und des Portätierten in der passiven Rolle nicht. Ich strebte einen gleichberechtigten Dialog der Beteiligten an: der Akt des Fotografierens sollte ein Raum werden, den der Fotograf und der Fotografierte mit gemeinsam verbrachter Zeit füllen, so dass auch die Zeit ihrerseits ihren Raum im Menschen und in der Fotografie abbildet.
Aus dieser Idee heraus begann ich zu experimentieren und arbeitete von 2000 bis 2002 an der Serie »One-Hour Portrait«. Für dieses Projekt bat ich verschiedene Menschen, sich eine Stunde lang auf einem Stuhl vor der Kamera zu platzieren und die Zeit, ohne Vorgaben meinerseits, aktiv zu gestalten. Es war mir wichtig, dass sie sich von mir zu nichts gezwungen fühlten und den Zeitraum, ganz nach Belieben, mit Schweigen oder einem Dialog mit mir gestalteten.
Die Grundlage für das 2004 in Seoul entstandene Projekt »Light Calligraphy« war meine Beschäftigung mit Kalligraphie und Schülern dieser Kunst. In der Kalligraphie geht es weniger um die Inhalte, die man zu Papier bringt, als um den meditativen Charakter der Tätigkeit an sich und die angestrebte Perfektion ästhetischer Ausgewogenheit, ein Anspruch, an dem man als Mensch fast schon zwangsläufig scheitern muss. Und genau in der Abbildung dieser scheiternden Bemühungen lag für mich der Reiz, die Schüler zu bitten, über eine Aufnahmezeit von einer halben Stunde, mit von mir selbstgebastelten Lichtstiften vor meiner Kamera koreanische Texte ihrer Wahl in die Luft zu schreiben. Man sieht auf den Bilder, dass ihre Schrift des in einem Zeitraum gebündelten Lichts, jeden Anflug von Perfektion verwischt.
2001 hinterfragte ich mit der Einzelarbeit namens »Five-Hour Intervals« die Wahrnehmung von scheinbaren Wiederholungen ritualisierter Alltagssituationen. Ein Mann sollte sich dafür 45 Minuten vor die Kamera setzen, danach für eine halbe Stunde den Raum verlassen, um dann wieder zum Studio zurückzukehren. Auch wenn der Mann den Eindruck hatte, er durchlaufe Wiederholungsschleifen und käme immer wieder zu demselben Stuhl zurück, so entsprach das nicht der Realität: denn nach jedem Intervall verschob ich den Stuhl um einen Meter nach hinten. So minimal die Veränderung auch gewesen sein mochte, so betrat er doch jedes Mal eine andere Situation. Die Fotografie wurde damit zu einem Beleg gradueller Veränderungen, die sich nur allzu gern der Wahrnehmung entziehen und als leicht übersehbares Detail im Alltagsfluss versteckt halten.
Die nächste Einzelarbeit ging über einen Zeitraum von sechs Tagen, für den ich eine Frau bat, jeden Tag für eine halbe Stunde auf einen Stuhl vor die Kamera zu kommen und von ihren Erlebnissen des Tages zu berichten. Über den gesamten Zeitraum blieb die Blende geöffnet, so dass diese Sequenz für mich zu einem einzigen Augenblick verschmolz.
Ich wollte diesen Einzelarbeiten, mit der Reduktion auf Schwarz-Weiß-Abbildungen, eine gewisse Zeitlosigkeit verleihen und frei von ablesbaren Modeerscheinungen, nur die Farben der Zeit durchschimmern lassen.
Nach einer langen inneren Vorlaufzeit ist 2007 die Serie »Believing is Seeing« mit Menschen stark eingeschränkter Sehfähigkeit oder auch vollständig erblindeten Personen entstanden. Ich zögerte lang und wollte sicher gehen, dass ich mit der optischen Konfrontation nicht deren Gefühle verletze und sie sich mit ihrer Rolle einverstanden zeigten, auch wenn sie das Resultat nie würden sehen können.
Zuerst sollten sie aufschreiben, wie sie glauben auszusehen. Meistens schrieben sie nieder, wie Verwandte und Freunde ihr Äußeres schildern. Nachdem ich die Zettel gesammelt und studiert hatte, begann das Fotografieren, praktisch im Sinne eines verschachtelten Selbstporträts: während ich sie den Zettelinhalt habe erzählen lassen, sind über einen Zeitraum von einer Dreiviertelstunde die Fotografien entstanden. Vielleicht hat gerade ihre Blindheit dazu beigetragen, dass sie den Prozess der Bildentstehung vor der Kamera mit mir entspannter haben verbringen können, als jemand, der angesichts der Kamera in ständiger Erwartung der Fotografie verharrt.
Bei manchen Fotoarbeiten habe ich das Bedürfnis, sie ihrer Materialität zu entledigen und in eine erlebte Zeit zu überführen. Die Zeit soll ihren individuellen Raum im Menschen und seiner persönlichen Wahrnehmung bekommen und bei den Teilnehmern, im Rahmen einer Performance, als psychisches Konstrukt wechselseitiger Beziehungen, Spuren zu einer neuen Reflexion über das Unbewusste hinterlassen. In der 2003 entstandenen Video-Performance »18 × 1 Minute« wurden neun Personen in einem Raum aufgefordert, sich auf einen Stuhl zu setzen und ihn erst wieder zu verlassen, wenn sie glaubten, dass die Zeitspanne von 18 Minuten verstrichen sei. Sie durften sich dabei weder mit den anderen Absprechen noch Augenkontakt zu dem Publikum haben. In jeder Stadt und mit jeder Gruppe gab es völlig unterschiedliche Abläufe. Es gab Teilnehmer, die verließen – im festen Glauben nur 18 Minuten auf dem Stuhl verbracht zu haben – ihren Platz erst nach einer Stunde. Doch die Performance legt nicht nur die individuelle Wahrnehmung der Zeit offen, sie verrät auch viel über das Menschsein an sich, über die Wirkweise von Gruppendynamiken und die unterschiedlichen Charaktere. Ob er einen Platz in der Mitte wählt oder eher im Hintergrund bleibt, ob er aus Prinzip der Erste ist, der aufsteht oder sich als Gewinner wähnt, wenn er auf jeden Fall als letzter bis zum Schluss bleibt.
Die nun folgende Fotoserie und Performance »Versus« wurde durch das zweiteilige chinesische Zeichen für Mensch inspiriert. Ich griff die symbolische Zweiheit des Zeichens auf, die dafür steht, dass man auf zwei Beinen einfach besser stehen kann und die aber auch die Bedürftigkeit des Menschen anzeigt und bat zwei Frauen, sich gegenüberstehend aneinander anzulehnen. Als Live-Performance gestaltete ich das Projekt in einer größeren Dimension und verteilte die Darstellung auf zwei verschiedene Orte: In Seoul ließ ich von 50 Menschen das linke Zeichen als 16-Meter Installation und in Barcelona das rechte Zeichen nachstellen. Innerhalb dieses großformatigen Zeichens sollten die Protagonisten sich mit geschlossenen Augen aneinander anlehnen und so schweigend für 15 Minuten verweilen.
Das nächste Projekt »Being a Queen« habe ich in Dänemark realisiert, nachdem mir bei meinen Aufenthalten in diesem Land, immer wieder das große Interesse der Bevölkerung an ihrem Königshaus aufgefallen war. Wir haben daraufhin eine Annonce geschaltet, mit der wir Leute, die glaubten, innerlich oder äußerlich der Königin ähnlich zu sein, aufriefen, sich bei uns zu melden. Wir luden die Menschen, die sich durch uns angesprochen gefühlt hatten, nach einer Vorauswahl zu einem Videointerview, um ihre Beweggründe zu erfahren. Eine junge Frau spürte wegen ihrer Größe von über 1,80 m eine innere Verwandtschaft zu der Königin und gab an, deshalb gut mit ihrer Größe umgehen zu können, weil auch die Königin souverän ihre Körperlänge meistert. Eine andere Frau verlor in demselben Alter ihren Vater, wie auch die Königin. Ausgestattet mit der Kopie eines royalen Kleides porträtierte ich anschließend die Protagonisten über den Zeitraum ihres Alters als Minutenanzahl hinweg.
Mein Name, der in der Übersetzung 1000 bedeutet, wirkte als universelle Metapher wie eine Initialzündung für eine Reihe von Projekten, die ich zwischen 2006 und 2008 realisierte. Mit dem Anliegen, 1000 gleichnamige Menschen in insgesamt tausend Minuten zu fotografieren, reiste ich nach China und wurde dort auch problemlos fündig. Die Abzüge, die einer Postkartengröße entsprachen, sollten dann von den Porträtierten mit Name, Geburtsdatum und -ort versehen und als Postkarte wieder an meine Adresse in Deutschland gerichtet werden. Korrespondierend zu der Ausstellung dieser Postkarten, wurden in Spanien zu dem Thema »The Weight of Pain« 1000 Menschen gebeten, entsprechend ihres empfundenen Leides, in einem roten Tuch Steine zu sammeln und in die Ausstellung zu bringen. Vor Ort installierten wir dann die Bündel, die von der Leere bis hin zu großen Steine, jede Ausdehnung des Schmerzes enthielten.
Abschließend komme ich auf eine Serie zu sprechen, mit der ich auch im Hauptprogramm dieses Festivals vertreten bin, die »BreaThings«. Die Fotografien entstanden in einer, die Umtriebigkeit der vorhergehenden Arbeiten ausgleichenden Intimität. Anders als in den meisten meiner Porträtfotografien bleibt das Gesicht bei diesen Arbeiten verborgen. Der Fokus wurde ganz bewusst auf die von den Modellen gehaltenen Gegenstände gelenkt. In der Auseinandersetzung der Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, faszinierte mich die Auswirkung, die Besitz auf das Objekt ausübt, es wandelt sich von einem reinen Gebrauchsgegenstand zu einem atmenden Organismus, wie ein die Seele bereicherndes Körperteil. Die Unschärfe der Fotografie, die durch die Atmung des Modells entsteht, verleiht dem Menschen und seinem Objekt in seiner synchronisierenden Wirkung das Antlitz einer Einheit in Raum und Zeit.
Die Porträts sind daher nicht nur Abbildungen individueller Verbindlichkeit, sondern auch eine Erinnerung, die Umwelt in seiner Wesenhaftigkeit zu begreifen und den Dingen Leben einzuhauchen.