Ich habe heute nur einen kleinen Ausschnitt meiner Arbeit mitgebracht. Im Martin-Gropius-Bau war vor einiger Zeit eine große Werkschau mit meinen frühen Fotografien von 1976 bis hin zu meinen aktuellsten Projekten 2009. Das ist insgesamt ein sehr langer Zeitraum und wenn wir schon über Zeit sprechen, möchte ich darauf hinweisen, dass ich eher spät zur Fotografie gekommen bin. So gesehen spielt also die Zeit auch in meinem Leben eine ganz wichtige und elementare Rolle.
Mein größtes Langzeitprojekt heißt: »Spuren der Macht – Die Verwandlung des Menschen durch das Amt«. Es war von vornherein klar, dass es ein längeres Projekt der Zeit werden muss. Acht Jahre sollten es mindestens sein, da dies der Dauer von zwei Legislaturperioden entspricht. So war es mir möglich Aufstieg und Fall zu erleben, da beides eine entscheidende Rolle im Leben der Porträtierten spielen wird.
Der Beginn eines Projektes – und da geht es wieder um Zeit – ist immer eine einerseits schöne aber auch gleichzeitig schmerzvolle Zeit. Und zwar schön, weil ich dann wieder im Aufbruch bin und mich geistig mit dem neuen Thema auseinandersetze, schmerzvoll aber auch, da es ein heftiges Suchen ist. Das Suchen nach einer Möglichkeit, wie ich das Thema gestalte und forme und welche Stilmittel ich verwenden werde.
Im Falle dieses Projektes war für mich klar, dass ich Frauen und Männer aus allen Parteien aussuchen werde. Außerdem war es mir wichtig, auch Vorstandsvorsitzende der Wirtschaft zu porträtieren, um zu sehen, ob es einen Unterschied gibt in der Entwicklung. Durch den Vergleich war später eindeutig zu erkennen, dass Politiker immens gezeichnet sind, im Gegensatz zu Wirtschaftsbossen.
Damals habe ich die von mir ausgewählten Personen angeschrieben und gleich betont, dass ich sie über einen längeren Zeitraum fotografisch begleiten möchte. Der nächste Schritt bestand darin, einen Weg zu finden, möglichst objektiv diese lange Zeit, diese Veränderung und diese Verwandlung im Bild wiederzugeben. Ich habe mich entschieden, sehr puristisch vor einer weißen Wand zu arbeiten. Bewusst habe ich mich ganz auf den Menschen bezogen und alle Statussymbole verbannt. Bei den Porträtsitzungen verzichtete ich darauf, Anweisungen zu geben, wie sich die Personen bewegen oder vor der Kamera agieren sollten, weil es ansonsten meine Inszenierung gewesen wäre. Es gab ein schlichtes Ritual: Porträt sitzend, Porträt stehend und dabei mit einem möglichst offenen Blick in die Kamera sehen.
Durch den langen Zeitraum von acht Jahren, stieß ich mit dem Projekt manchmal zunächst auf Unverständnis. Angela Merkel hat z. B. bei einer der ersten Sitzungen gesagt: »Was soll der Quatsch, man muss doch heute in der Zeitung stehen und nicht erst in acht Jahren?« Außerdem war sie damals der Meinung, dass ich nicht durchhalten würde und ich muss sagen, es war auch wirklich eine lange Zeit.
Hier möchte ich noch einen Aspekt meiner Arbeitsweise ansprechen, der entscheidend zum Gelingen des Projektes beitrug. Ich wollte mich als Künstlerin nicht darauf beschränken nur zu fotografieren. Mich hat zudem interessiert, wie sich der Mensch auch geistig durch Macht und die damit verbundenen Lebensbedingungen verändert. Wie schafft man es ganz nach oben? Und wer bleibt dann dort oben?
Aus diesem Grund habe ich im ersten Jahr mit allen Teilnehmern als Grundlage ein längeres Interview geführt. Ich habe zum Beispiel gefragt, was sie besonders geprägt habe. Gerhard Schröder antwortete darauf 1991: »Man passt auf, dass etwas für einen übrig bleibt. Das beginnt schon in der Kindheit mit dem Kampf um einen guten Brocken auf dem Teller. Ich glaube, dieser Antrieb, vom Leben etwas abkriegen zu wollen, weil man ein Defizit spürt, geht einem auch in der Politik nicht völlig verloren«.
Durch meine Beobachtungen kam ich zu der Feststellung, dass die Menschen in Positionen der Wirtschaft geschützter sind als die in der Politik. Politiker müssen eitel, fast exhibitionistisch sein, weil sie sich täglich mit ihrem Gesicht und ihrem Körper verkaufen, sie wollen ja wieder gewählt werden. Die Wirtschaftskapitäne stehen hingegen immer hinter dem Namen der Firma zurück. Gerade als Kanzler oder Kanzlerin hat man einen Job, der so unvorstellbar stressig ist, dass Sie sich gar kein Bild davon machen können. Diese Menschen haben alle 14-Stunden-Tage, oft keinen Samstag und sogar am Sonntag wird noch miteinander telefoniert. Hinzu kommt dass unterschwellig ständig irgendwelche Intrigen laufen. Man muss sich behaupten. In Zeiten des Wahlkampfs haben sie ein halbes Jahr durchgehend keine Freizeit mehr.
Lassen Sie uns an dieser Stelle die Porträts von Joschka Fischer anschauen. Er sagte mir 1995, dass er die Beine nicht mehr übereinanderschlagen könne, weil er zu dick geworden sei. Dann kam 1996 die große Krise und er nahm 20 Kilo ab. Auch der Mund war plötzlich nur noch ein schmaler Strich und in seinen Augen konnte man eine tiefe Verletzung ablesen. Für mich war diese Veränderung sehr aufschlussreich. 1997 war sein Blick aber bereits wieder fester, er hatte also schon wieder Boden gewonnen. Und 1998 wurde er Außenminister. Die Augen und der Mund auf dem entsprechenden Porträt sind anders und auch seine Körperhaltung hatte sich entscheidend verändert. Diese selbstbewussten Posen hatte er noch nie vorher eingenommen. Interessant ist hier zu erwähnen, dass Joschka Fischer immer gesagt hat, man müsse wissen, wo man herkommt und wer man ist, damit die Macht einen nicht völlig in Besitz nehmen könne. Doch später ist er ihren Verlockungen erlegen.
Persönlich habe ich immer wieder beobachtet, dass es sich ganz klar zeigt, welchen Charakter eine Person besitzt, sobald sie in eine der höchsten Positionen gelangt.
1991 wurde Gerhard Schröder Ministerpräsident von Niedersachsen. Er war unglaublich stolz darauf und sagte: »Jetzt muss mich das Land Niedersachsen malen lassen in Öl, daran war ja gar nicht zu denken in meinem Leben!« Und ich zeige hier noch einmal kurz die Aufnahme von 1991 mit diesem offenen Gesicht und den offenen Augen. Das Gesicht wurde im Laufe der Jahre immer maskenhafter, die Lebendigkeit entschwand und vor allem seine Augen veränderten sich. Ich habe Gerhard Schröder 15 Jahre lang jedes Jahr fotografiert. Dieses Porträt aus dem Jahr 2005 habe ich im vorgezogenen Wahlkampfjahr aufgenommen. Die Anspannung und der Stress sind deutlich zu sehen. Ein Jahr später, nachdem er nicht mehr Kanzler war, fotografierte ich ihn erneut. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Schmerz des Verlustes schon nachgelassen, und plötzlich stand er wieder ganz locker und entspannt vor mir.
Kurz nachdem ich Angela Merkel damals ausgesucht hatte, erkannte ich, dass sie eine ganz eigene Qualität von Stärke hat. Diese Eigenwilligkeit ist etwas, was sie immer noch auszeichnet. Aber noch etwas Entscheidendes kommt bei ihr hinzu: Sie ist und war völlig uneitel, ganz im Gegenteil zu ihren Kollegen Joschka Fischer und Gerhard Schröder. Jemand sagte einmal zu mir: »Naja, es sind halt Männer…«, aber ich persönlich bin der Meinung, dass diese Uneitelkeit ein Grundprinzip von Angela Merkels Persönlichkeit darstellt. Fest steht auf jeden Fall, dass dieser Charakterzug einen gewissen Schutz bietet, weil man durch Eitelkeit sehr verführbar ist. Für sie war einzig die Arbeit entscheidend.
Diese Aufnahme stammt aus dem Jahre 1998 und Sie sehen hier schon zum ersten Mal die berühmte Handhaltung, die sie jetzt immer einnimmt. Auf dem Bild von 2006 als Kanzlerin ist in ihrem Gesicht weniger Emotionalität zu sehen, die Maske greift.
Das Projekt mit Gerhard Schröder ist beendet und mit Angela Merkel arbeite ich noch weiter. Diese Langzeitprojekte liebe ich sehr, und das Phänomen Zeit, das bei mir immer eine Rolle spielt, kommt dabei besonders stark zum Tragen.
In einem anderen Projekt habe ich mich dem Thema Schlafzimmer in den Metropolen der Welt gewidmet: New York, Moskau, London, Paris, Rom, Berlin. Auch hier habe ich kurze Texte dazu genommen, weil ich erfahren wollte, was die Menschen denken. Im Schlafzimmer ist die Körpersprache entspannter, reduzierter und es herrscht dort ein anderes Zeitmaß. John Steinbeck hat einmal geschrieben: »Die Menschen hinterlassen Spuren. Ein Tier, ob es nun ruht oder sich bewegt, hinterlässt zerdrücktes Gras, Pfotenabdrücke oder vielleicht Exkremente. Ein Mensch hingegen, der einen Raum für eine Nacht besetzt, hinterlässt Spuren seines Charakters, seiner Biografie, seiner jüngsten Vergangenheit und manchmal auch seiner Pläne und Hoffnungen für die Zukunft.« Ich habe immer wieder Räume erlebt, die entweder eine sehr starke positive oder eher negative Ausstrahlung besaßen.
Fotografisch habe ich bei diesem Projekt auf drei Ebenen gearbeitet: einmal der Raum, dann die Personen, die in ihn leben, und als drittes ein Zitat der Porträtierten über Schlaf, Tod oder Sexualität. Der alte Mann sagte zum Beispiel: »In diesem Zimmer sind meine vier Kinder geboren, meine Frau ist hier gestorben und ich hoffe, dass ich auch hier sterben kann«. So gesehen ist in diesem Zimmer die Zeitspanne des Lebens, von der Geburt bis zum Tod eingeschlossen.
Im Kontext dieser Konfrontation mit unserer Vergänglichkeit möchte ich Ihnen als letzten Zyklus Nina zeigen. Ein gutes Foto sollte für meine Begriffe die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft in sich vereinen. In den Aufnahmen von Nina erkennen wir deutlich die Gegenwart. Wir sehen aber auch ihre Vergangenheit und was für eine schöne Frau sie war. Nina ist eine russische Fürstin, die in den zwanziger Jahren nach Berlin kam und ich habe sie vor einiger Zeit einen Nachmittag lang fotografiert. Sie war achtzig Jahre alt und ich habe sie bewundert wegen ihrer Anmut und ihrer Grazie. In den Bildern zeige ich, wie ihr Körper jetzt langsam eine Landschaft wird, eine Sanddüne, eine Baumrinde könnte es auch sein. Es war für mich eine sehr eindringliche Arbeit über die Vergänglichkeit und eine Konfrontation mit dem Älterwerden und Altsein und dem Vergehen.