»Überlieferung« hieß in der Geschichte der Philosophie lange das, worauf man baut oder das, womit man bricht. Als eigenständiges philosophisches Thema ist sie erst spät in den Blick gekommen. Dabei spielte sicher eine Rolle, dass die philosophischen Untersuchungen der Zeit sich vorwiegend am physikalischen Schema beobachtbarer Bewegungen oder an der theologischen Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit orientierten. Das Phänomen der Überlieferung wirft aber eine Frage auf, die sich mit diesen theoretischen Mitteln nicht beantworten lässt: Wie kann eine Vergangenheit, die ich selber nicht erlebt habe, dennoch meine sein?
In jüngster Zeit hat vor allem Bernard Stiegler die These vertreten, dass sich diese Frage nur im Rekurs auf alltägliche Artefakte beantworten lässt, die als Träger von Überlieferung fungieren. Ich glaube, dass diese Hypothese richtig ist und möchte nur einen Augenblick in der Theorieproduktion des 20. Jahrhunderts markieren, der dem Foto eine besondere Rolle im Geschehen der Überlieferung zuweist. Dieser Augenblick lässt sich verhältnismäßig genau auf den Zeitraum zwischen Frühjahr und Herbst 1927 datieren, in dem zwei Texte von ganz unterschiedlicher Machart erscheinen. Martin Heideggers philosophisches Fragment »Sein und Zeit« und Siegfried Kracauers programmatischer Aufsatz »Die Photographie«.
Es kann hier natürlich nicht darum gehen, das theoretische Niveau einer philosophischen Abhandlung mit dem eines Artikels der Frankfurter Zeitung zu vergleichen oder die Leichtigkeit des Feuilletons gegen die Zumutungen der Heideggerschen Diktion auszuspielen. Worum es geht, ist vielmehr gedankliche Zeitgenossenschaft, eine Verwandtschaft der Fragestellungen, die sich in einer gesteigerten Aufmerksamkeit für das Thema des Alltäglichen, vor allem aber für das Problem der Überlieferung zeigt. Schon 1924 hatte Heidegger in seinem Marburger Vortrag über den Begriff der Zeit bemerkt, die Frage nach der Zeitlichkeit des Daseins fordere, »noch ganz ungeklärte Phänomene wie das der Generation, des Generationszusammenhangs« in den Blick zu nehmen. In »Sein und Zeit« verankert er das Phänomen der Überlieferung dann fest in der Geschichtlichkeit des Daseins.
Wenig später publiziert Kracauer seinen Aufsatz »Die Photographie«, in dem er das Foto als eines jener alltäglichen Artefakte analysiert, die Heidegger »Zeug« nennt. Schon die ersten Absätze des Textes präsentieren das Foto nicht als Kunstobjekt, sondern als Gegenstand für den täglichen Gebrauch, indem sie das Titelbild einer Illustrierten neben ein Familienfoto stellen.
»So sieht die Filmdiva aus.« – »Sah so die Großmutter aus?«
Dieser Zweischritt gibt allen weiteren Analysen ihr Schema vor. Er setzt die Diva gegen die Großmutter, die Abbildung des Aktuellen gegen das Nachbild des Gewesenen, die Gewissheit der Gegenwart gegen das Gespenst des schlechthin Vergangenen. Zwischen der befriedigten Feststellung, dass die Filmdiva genau »so« aussieht und der zögernden Nachfrage, ob »so« tatsächlich die Großmutter aussah, entfaltet Kracauer eine Analyse, die die Fotografie in letzter Konsequenz als eine »Darstellung der Zeit« auffasst: »So sieht die Filmdiva aus. Sie ist 24 Jahre alt, sie steht auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wir schreiben September. Wer durch die Lupe blickt, erkennt den Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen. Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint, sondern die lebendige Diva am Lido. Zeit: Gegenwart.«
Kracauers Beschreibung ist ganz auf beruhigende Banalität gestimmt. Die Angabe »Zeit: Gegenwart« versieht die einzelnen Elemente mit einem festen Anker, der alles Abgründige als bloßes Accessoire erscheinen lässt. Dass der Begleittext des Bildes von der »dämonischen Diva« spricht, lässt sich in diesem Zusammenhang leicht mit einem Verweis auf ihre hübsche »Ponny-Frisur« kontern. Und auch die Erkenntnis, dass das Porträt unter der Lupe zu einem bloßen »Punktnetz« zerfällt, kann nicht weiter erschüttern, denn »gemeint« ist ja ganz zweifelsfrei »die lebendige Diva am Lido«.
Es ist ganz offensichtlich, aber auch nicht weiter schlimm, dass sich Kracauer von der Anspruchslosigkeit seines Sujets anstecken lässt. Denn letztlich dient ihm das Bild der Diva nur als Kontrast zu einem Phänomen, das keinen Begleittext braucht, um seine gespenstische Wirkung hervorzuheben: das Abbild der Großmutter, dessen Urbild längst »vermodert« ist. Symmetrisch zur Diva präsentiert er sie als junge Frau von 24 Jahren.
»Sah so die Großmutter aus? Die Photographie, über 60 Jahre alt und schon eine Photographie im modernen Sinn, zeigt sie als junges Mädchen von 24. Da Photographien ähnlich sind, muss auch diese ähnlich gewesen sein. Sie ist in dem Atelier eines Hofphotographen mit Bedacht angefertigt worden. Aber fehlte die mündliche Tradition, aus dem Bild ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren.«
Kracauers Thema sind hier gerade diejenigen Phänomene, deren Analyse Heidegger in seinem Marburger Vortrag einfordert: die Phänomene der Überlieferung »von Generation zu Generation.« Dabei betont er die Bedeutung von Artefakten, die fragmentieren, was sie überliefern und eine sprachliche Ergänzung fordern wie ein Torso die – imaginäre oder reale – Ergänzung der fehlenden Glieder. »Aber fehlte die mündliche Tradition, aus dem Bild ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren.«
Entscheidend ist dabei, dass nicht nur das technische Artefakt auf die mündliche Überlieferung, sondern auch die mündliche Überlieferung auf das technische Artefakt angewiesen ist. Denn was hier »rekonstruiert« wird, ist nicht die reale Großmutter, sondern die Welt, in der sie einmal gelebt hat und als deren Bruchstück das Bild in unserer Welt fortbesteht. Wenn das Abbild der »Ahnfrau«, wie Kracauer schreibt, »zum Gespenst« wird, so liegt das nicht daran, dass die nachgedunkelte Erscheinung nur undeutlich an ihr menschliches Urbild erinnert, sondern daran, dass das Bild die Welt gewechselt hat und seine alltägliche Gegenwart als Bruch mit einem »schlechthin Vergangenen« erfahren wird. Entsprechend ist nicht von der Großmutter, sondern vom Bild selber die Rede wenn Kracauer schreibt:
»Nun geistert das Bild wie die Schloßfrau durch die Gegenwart.«
Das Bild »geistert« durch eine ihm fremde Umgebung, es ist Teil der Welt der illustrierten Zeitungen, ohne die Welt der Hoffotografen je ganz verlassen zu haben. So erscheint das fotografische Artefakt als ein Gegenstand des täglichen Lebens, stört aber zugleich die elementare »Beruhigung«, die nach Heidegger ein Charakteristikum des alltäglichen In-der-Welt-seins ist.
Insgesamt lässt sich Kracauers Aufsatz als Einladung lesen, das Foto als »Zeug« im Sinne Heideggers zu verstehen. Denn »Zeug« ist in »Sein und Zeit« nicht nur Inbegriff der Dinge, die wir täglich gebrauchen, es spielt auch eine zentrale Rolle im Geschehen der Überlieferung von Generation zu Generation. In § 73 von "Sein und Zeit" sind es im Museum aufbewahrte Gebrauchsgegenstände – »Hausgeräte zum Beispiel« – die die Frage nach der Stellung des »Zeugs« im Überlieferungsgeschehen aufwerfen. Die unzureichenden Antworten auf diese Frage gebrauchen Vokabeln wie »Altertumspflege« und »Landeskunde« und sie sprechen davon, wie die Geräte »im Laufe der Zeit« brüchig geworden sind. All das hält Heidegger für unerheblich und auch die Frage, ob die Geräte gegenwärtig noch im Gebrauch stehen, entscheidet für ihn nicht über deren Geschichtlichkeit. Was »an« den Geräten vergangen ist, obwohl sie zugleich der Gegenwart angehören, hat selbst keinen Gerätcharakter, es ist die »Welt«, in der sie auf die eine oder andere Weise gebraucht wurden.
Das stellt uns aber vor die Aufgabe, Überlieferung als eine Art von intergenerationeller Vergemeinschaftung, als diachronisches Mitsein zu denken. Denn die als Zeug gebrauchten »Dinge« begegnen, wie es in § 26 von »Sein und Zeit« heißt, »aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind.« Welt ist »Mitwelt«, sie ist »je schon immer die, die ich mit anderen teile«, und diese Teilung wäre nicht möglich, wenn nicht Dinge von einer Hand zur anderen wandern, im Gebrauch versammeln und in Verteilungskämpfen entzweien könnten. Zeug ist geschichtlich nur, sofern es innerhalb einer Welt und zwischen Welten geteilt wird, es ist Teil eines syn- wie diachronen Mitseins.
Eben dieser Einsicht folgt auch Kracauer, wenn er die Enkel vor das Bild der Großmutter stellt und sie im ruhigen Umgang mit dem alltäglichen Ding die Beunruhigung durch seine Zeitlichkeit erfahren lässt. »Sie lachen und zugleich überläuft sie ein Gruseln. Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken«. Diese verflossene Zeit findet sich nicht im Bild, sie ist, wie Kracauer schreibt, »nicht mitphotographiert«. Die Zeit der Überlieferung ist die Zeit »der Photographie selber«, sie ist die Zeit des Bilddings, das uns zumutet, schlechthin Vergangenes als unsere Vergangenheit zu erfahren.
(Quellen: Martin Heidegger, Sein und Zeit, siebzehnte Auflage, Tübingen 1993; Siegfried Kracauer, »Die Photographie«, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1977, S. 21-39.)