Symposium 2010
Jetzt – Die erzählte Zeit

Gesine Grotrian-Steinweg

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Gesine Grotrian-Steinweg

Rekonstruktion

Zu Beginn meines Vortrages möchte ich mit der Vorstellung meiner Person eine Brücke der Rekonstruktion zu dem diesjährigen Thema Jetzt – Die erzählte Zeit schlagen. Mit der Summe an Informationen über mich und meine Arbeit könnt ihr mich dann in unserem Jetzt konstruieren.

Als Grafikdesignerin und Illustratorin habe ich 2001 zusammen mit Fons Hickmann in Berlin das Studio Fons Hickmann m23 gegründet. Wir speisen uns aus einem großen interdisziplinären Netzwerk aus Musikern, Fotografen, Programmierern und Ausstellungsgestaltern und sind je nach Projekt zwischen fünf und neun Mitarbeiter. Einige Arbeiten aus diesen Kollaborationen möchte ich euch heute vorstellen.

»5 × Berlin« hieß eine Ausstellung, die wir 2005 in Chaumont in Frankreich konzipiert haben. Chaumont ist unter Grafikdesignern ein bekannter und wichtiger Ort, weil hier seit Jahrzehnten Plakate gesammelt werden und es als einer der größten Plakatausstellungsorte gilt. Einmal im Jahr wird eine große Halle, in der die Stadt Chaumont sonst ihre Busse und Müllfahrzeuge parkt, für vier Wochen geräumt und einem Ausstellungsdesigner für seine Arbeiten zur Verfügung gestellt.

Im Jahr 2005 haben wir für die Ausstellung folgende fünf Berliner Designer vorgeschlagen und kuratiert: Da wären zum einen cyan, eine international agierende, ehemalige Ostberliner Agentur, dann drei junge Designer namens anschlaege mit einer sehr politischen Handschrift, Angela Lorenz mit elektronischer Musik und CD-Covergestaltung, der Illustrator ATAK und unser Studio.

Mit dem Ansatz des flexiblen Blickwinkels haben wir nun unser Ausstellungskonzept insofern umgesetzt, als dass die Arbeiten an, den unterschiedlichen Designern farblich zugeteilten, Seilen von der Decke abgehängt wurden und der Besucher somit innerhalb dieses Konvoluts ein maximales Spektrum an variierenden Perspektiven und Kontexten geboten bekommt. Ebenfalls anlässlich dieser Ausstellung haben wir ein Buch gestaltet, dessen Coverdesign sich an den Stil der für Berlin typischen Graffitis auf den Brandwänden großer Fabriken anlehnt. Als Einsicht in die Stadt Berlin eine Aussicht auf die Namen der fünf Designer als Großwand-Graffiti. Analog zu dem Seilsystem der Ausstellung gestaltet sich auch das Buchinnenleben in seiner Reihung von Bildern und schmalen Textstreifen, wie die Abfolge langer Bänder. Um für das Buch neben den Arbeiten auch die Arbeitsatmosphäre der unterschiedlichen Designer festzuhalten, haben wir die Berliner Fotografin Nina Lüth gewinnen können, die für uns die Künstler fotografisch dokumentiert.

Als nächstes möchte ich dann die Zusammenarbeit mit der Bayrischen Staatsoper skizzieren, für die wir seit 2005 tätig sind. Für uns lag die Herausforderung in der Auseinandersetzung mit Oper grundlegend in der Übersetzung eines als antiquiert angesehenen Opernformats in eine zeitgemäße Sprache. Da die von Opern behandelten Themen ihre Relevanz bis heute nicht eingebüsst haben, galt es, ein der Alltagssprache entnommenes Kommunikationskonzept zu kreieren und der Oper ein modern verständliches Gesicht zu verleihen. Wir bedienten uns dabei der visuellen Sprache von Piktogrammen und Straßenschildern, mit denen wir zur Plakatankündigung eines Stückes ein Zitat aus selbigem darstellten. Nach zwei Wochen wurden die Piktogramm-Plakate mit der schriftlichen Ausführung des Zitates überdruckt und somit aufgelöst. Zum Beispiel von 2007 das Plakat zu der Neuinszenierung von »Luisa Miller«: »Es gibt keine Rettung. Sie trank Gift«.

Unsere Zusammenarbeit mit der Oper blieb nicht auf Plakate beschränkt. Das Konzept weitete sich auf Briefbögen, Rätsel in Zeitschriften sowie Kinospots aus und sollte auch eine weitere Übersetzung in neue Medien erfahren, als nach zwei Jahren der Intendant mit dem Konzept der Metamorphose zusätzliche Veränderungen einleiten wollte. In diesem Schritt folgte eine Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Fotografen und neuen Medien und es entstand ein Kaleidoskop an Arbeiten, die die Oper in ein neues Licht tauchen.

Wir entwickelten mit der Staatsoper das Magazin »Max Joseph«, dessen wechselnde Heftthemen auf die jeweiligen Opernstücke verweisen und die innerhalb des Magazins unter Einbeziehung unterschiedlichster Perspektiven aufbereitet werden. So lauten die Titel zum Beispiel »Scham«, »Ordnung« oder »Rausch«. Je nach Thema gestaltet sich die Vorgehensweise der Zusammenarbeit mit dem Bildediting, der Oper, der Redaktion und den Fotografen in einem permanenten Wechselspiel gegenseitiger Beeinflussung immer unterschiedlich. Wir arbeiten mit großen Fotostrecken und den sehr assoziativen Blickwinkeln der Fotografen oder Künstler auf die jeweiligen Themen, so dass sich weitere Fenster und Assoziationsräume öffnen und der Betrachter gefragt ist, sich zwischen Text und Bild seine eigenen Gedanken zu machen. Fotoessays gehen nahtlos über in Artikel sprachlich erzählter Geschichten, ergänzen einander oder wechseln sich ab, wie in der Recherche aus dem Heft »Scham« von Yann Gross über »Jenufa« und den Komponisten Janácek. Um auf den Spuren einer erzählten Liebesgeschichte im Jetzt Spuren vom Damals zu finden und sich fotografisch an das Thema anzunähern, ist Gross nach Brünn und in die Umgebung gefahren. In dem Zusammenspiel der Fotografien mit dem Text, den kontrastierenden Landschaften der Zeit, entsteht sie dann, eine wunderbare Liebesgeschichte zwischen Worten und Bildern.

Wichtig für unsere Arbeit ist uns immer ein starkes Gestaltungskonzept, das wir in dem Magazin sehr streng gehalten haben, um die unterschiedlichen Bildformate in eine Ruhe zu betten und damit optimal präsentieren zu können.

Eine gelungene Übertragung zu dem Magazinthema »Ordnung« hatte Julia Fullerton-Batten mit ihren Fotografien schon vor dem Erscheinen des Magazins geschaffen. In dem Fotoessay »school play« bereichert sie durch die Annordnung geklonter Schulmädchen im institutionellen Korsett das Thema Ordnung um die Perspektive einer Reihung der Uniformität. Ebenfalls zu dem Thema Ordnung entstanden eigens für das Magazin Abdrücke gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen aus der Sichtweise Herlinde Koelbls. Die Arbeiten sind von ihr in dieser Komposition zusammengestellt und sprechen praktisch für sich. Staatlich verordnete Ordnung der Bundeswehrspinde stehen den streng ausgerichteten Tassen und Löffeln nachmittäglichen Kaffeetafelverpflichtungen ausgewählter Gäste wie zum Appell gegenüber, umspülen die eingestreuten Inseln einiger Künstlerexistenzen, deren mehr oder weniger strukturiertes Chaos man unter anderem auch als Schutzwall gegenüber dem steigenden Pegel gesellschaftlicher Normierung zu begreifen lernt.

Seit 2008 gestalten wir mit Orchesterplakaten ein weiteres wichtiges Projekt für die Bayrische Staatsoper. Im Zuge der Konzeptplanung haben wir uns von unterschiedlichen Fotografen ihre Landschaftsfotografien geben lassen und sie in Zusammenarbeit mit den Dramaturgen den jeweiligen Stücken zugeordnet. Wir haben sie dann aber um 90 Grad gedreht, um durch die entstehende Irritation einen größeren Assoziationsspielraum zwischen Bild und Text zu schaffen. Im Anschluss an die großformatigen Plakate haben wir uns in der zweiten Spielzeit für eine Fortführung des Konzeptes mit urbanen Landschaften entschieden und griffen dafür auf Fotografien von Özgyr Albayrak zurück, die ebenfalls sehr spannende Formate entstehen ließen.

Ein weiteres Projekt ist eine Arbeit für das Magazin »Dummy«, welches viermal im Jahr erscheint und dem in jeder Ausgabe ein anderer Gestalter mit einem eigenen Thema zugrunde liegt. Für das Magazinthema »Kinder« war ich damit beauftragt, neben Gestaltungsarbeit und Bildediting für ein Essay von zehn Doppelseiten Fotografenbilder zu suchen, die eine Geschichte zum Thema »Kinder« erzählen. Erst nachdem die fotografische Anfangssequenz stand, sollte die Gestaltung konzipiert werden und daran anschließend brachte die Chefredaktion die Texte, zu denen wir dann wiederum die Fotos wählten. Als Gestaltungskonzept nahmen wir uns den Wachstumsprozess der Kinder zum Vorbild und platzierten in einer gleichbleibend großen Lücke auf jeder Seite die stetig an Größe zunehmende Seitenzahl.

Abschließend möchte ich noch auf die Arbeit eines Corporate Designs für das ungewöhnliche Zukunftsunternehmen Gerdes verweisen, welches seinen Firmennamen durch den Zusatz »was Zukunft hat« ergänzt. Gerdes hat sich der schwer zu umreißenden Aufgabe verpflichtet, auf Unternehmen zuzugehen, sie mit Visionären, Designern, Architekten und unterschiedlichen Leuten zu verknüpfen, um deren Firmenkonzepte zu überdenken und neue Denkprozesse anzuregen. Mit neuen Kontakten und Entscheidungen soll damit der Grundstein für den richtigen Auftritt gelegt werden. Auf der Suche nach einer konzeptionellen Entsprechung sind wir auf den Fotografen Gerhard Mantz gestoßen. Wir fanden in seinen malerisch detaillierten Fotografien unterschiedlicher Meereshorizonte genau jenen Ausdruck von Zukunftshorizonten, die Gerdes Aufbruchstimmung sehr gut widerspiegeln können: Um eine Vision zu entwickeln, muss man den Blick in die Ferne üben, die Augen über ein unverstelltes Feld an Möglichkeiten wandern lassen – denn Zukunft braucht einen Nährboden für Visionen.

Mit diesen Bildern möchte ich meinen Vortrag gerne abschließen und sie in euch als Assoziationsfelder der Zukunft weiter nachwirken lassen, denn ich glaube, dass diese Thematik sicherlich auch die zukünftigen Gestalter und Fotografen hier an der Hochschule für Gestaltung beschäftigt. Ich denke, es ist wichtig, eine Vision des eigenen Weges zu entwickeln, ohne sich dabei in Trends zu verlieren und - ungeachtete der Tatsache des inflationären Gebrauchs der Begriffe wie Authentizität und »der eigene Blick« - die eigene Irritation und Perspektive zu fokussieren. Manchmal entstehen dabei, eher zufällig und als anfängliche Begleiterscheinung, Arbeiten, die eine aufkeimende Stärke spüren lassen und aus denen heraus sich plötzlich Geschichten entwickeln. Häufig sind es dann genau diese Arbeiten, die letztendlich besonders herausragen.

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