Bei bedeutenden Personen wird ihr Bild zu einer Marke, die auch von diesen Personen, wie von den Fotografen gepflegt wird. Die Fotografen präsentieren natürlich besonders gerne ihre portraitierten Personen so, dass die Leute, die dieses Bild sehen, an sehr viel erinnert werden, was sie über die Person wissen. Und dadurch verstärkt sich das Bild von der Person und wird gewissermaßen zu einem Markenzeichen.
Zum Beispiel Heiner Müller mit dicker Hornbrille, mit Zigarre immer ein bisschen unrasiert. Schlips- und kragenlos, ernst, sehr skeptisch. Der Textarbeiter, würde ich sagen, eine ziemlich autoritäre Person, der auch als Regisseur am Berliner Ensemble quasi als später Nachfolger von Brecht sich gewissermaßen à la Brecht stilisiert hat. Die Bilder, die man von Heiner Müller sieht, sind mehr oder weniger immer diese. Das heißt der Heiner Müller, der etwas Finstere, Ernste und irgendwie in unfassbarer Souveränität über der Situation stehende Textarbeiter. Nun, jetzt haben wir dieses Buch von seiner Frau Brigitte Maria Mayer. Sie ist Fotografin und zeigt uns aus der letzten Lebenszeit von Müller ganz andere Bilder. Den Heiner Müller als Ehemann, als Vater, zu Hause. Hier hat er noch die Hornbrille auf, die Zigarre ist weg. Wie er zu Hause auch ohne Brille ist und auch nicht als der Souveräne, sondern auch als der Leidende oder auch der liebende Partner zu sehen ist. Also gerade, dass es dieses Buch gibt, zeigt uns dass das öffentliche Bild, das gewissermaßen ein Image eines Autors oder eines Verlegers darstellt, dass dieses öffentliche Bild gewissermaßen zu einem Stereotyp geworden ist. Also, muss man sagen, dass das Prominentenfoto als Portrait genau genommen nur funktioniert, weil man auch sonst sehr viel über die Person weiß. Und dieses Foto muss im Grunde seinen öffentlichen und nicht seinen privaten Charakter zeigen. Weil das so ist, haben bedeutende Fotografen immer ein besonderes Interesse an öffentlichen Personen gezeigt. Viele der berühmten Portraitfotos sind Fotos von berühmten Leuten. Das liegt natürlich daran, dass hier diese Spannung zwischen dem Foto und dem was man sonst noch über die Person weiß zum Tragen kommt.
Thomas Ruff 1991: Er hat ganze Serien von Bildern gemacht, die meiner Ansicht nach keine Portraits sind. Das sind einfach Ablichtungen von Personen, deshalb macht er es vielleicht auch in Serien. Diese Bilder haben sozusagen keine Beziehung zu irgend etwas, sie beziehen sich nicht auf eine Person. Ich möchte das nicht als Kritik an Thomas Ruff verstanden wissen, der wirklich ein sehr bedeutender Künstler ist, aber ich finde man sollte sich klar machen, das sind genau genommen keine Portraits. Bilder von Cindy Sherman sind auch keine Portraits. Im Gegenteil es ist so, dass Cindy Sherman durch die Vermannigfaltigung ihrer Person in bestimmten fiktiven Filmrollen sich gewissermaßen ganz und gar zurück nimmt. Sie will gerade nicht auf ein bestimmtes Image festgelegt werden.
Das bringt mich jetzt zu meinem zweiten Teil. Wo es nun ausdrücklich um Portraitfotografie im engeren Sinne geht. Wo der Fotograf den Ehrgeiz hat, das was der Mensch eigentlich ist, den Charakter ins Bild zu bringen. Und da würde ich sagen, das ist gewissermaßen das umgekehrte Problem zu dem, was man das physiognomische Problem nennen könnte. Das physiognomische Problem besteht ja darin, dass man meint, aus bestimmten Zügen eines Menschen seinen Charakter oder sein Wesen ablesen zu können. Gewissermaßen aus dem Aussehen auf die Innerlichkeit schließen. Bei der Portraitfotografie handelt es sich um das Umgekehrte: Dass der Fotograf versuchen muss, den Charakter eines Menschen zu veräußerlichen, in ein Bild zu bringen. Aus dem lebendigen Minenspiel einen Menschen sichtbar zu machen. Nun, dazu gibt es eine traditionelle Diskussion, die darauf hinaus läuft, dass das Bild, das Gemälde damals und später dann das Foto, das gar nicht kann. Weil das Foto oder das Gemälde nur eine Darstellung ist, die den Augenblick zeigt und gerade nicht die Bewegung und die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen. Ich zitiere jetzt Lessing aus Laokoon: »Die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters. Der Raum das Gebiete des Malers.« Von da aus ergibt sich die Frage, wie kann der Maler von da aus etwas wie Bewegung darstellen? Die Antwort von Lessing: »Er muss den prägnanten Augenblick wählen. Den prägnantesten Augenblick muss man wählen, aus dem das Vorhergehende und das Folgende am begreiflichsten wird.« Das hieße für den Portraitfotografen, dass er sozusagen einen Menschen in einem Anflug von Bewegung oder von Mimik treffen muss, die eigentlich sein Leben im Moment zusammenrafft und dadurch seinen Charakter zeigt.
Ernst Gombrich beschäftigt sich in seiner Arbeit Maske und Gesicht genau mit diesem Thema. Bei ihm klingt es sehr ähnlich wie die Forderung von Lessing, aber er geht eigentlich mehr darauf ein, dass man im Augenblick die Mannigfaltigkeit der Gemütsregungen eines Menschen einfangen können müsste. Er sagt: »Er, der Portraitfotograf, muss die Mehrdeutigkeiten des festgehaltenen Gesichts so ausnutzen, dass die Vielfalt möglicher Auffassungen den Anschein von Lebendigkeit erweckt. Das unbewegliche Gesicht muss als Knotenpunkt mehrerer möglicher Ausdrucksbewegungen erscheinen.«
Gombrich hat damit schon angedeutet, dass man im Bild in der Mannigfaltigkeit möglicher Auffassungsweisen, die Vielfalt der Charaktermöglichkeiten einer Person sehen können müsste. Das heißt, er bezieht sich auch auf den Betrachter. Und das ist ein bisschen so ähnlich wie das, was ich gesagt habe über das Portrait als Image. Es geht nicht bloß um das Bild, sondern es geht um die Beziehung zum Betrachter. Beim Bild als Image ist es die öffentliche Person, über die man viel weiß, und hier ist es so, dass man eine Person vor Augen hat, die man irgendwie kennt und dass man diese Kenntnis, die man von der Person hat, in das Foto sozusagen hineinlegen kann.
Ein anderer Aspekt ist das ›gesehen werden‹. Es ist, soweit ich sehe, zu einer Begierde in unserer Gesellschaft geworden. Eine ungeheure Notwendigkeit, alles was man tut, noch zu fotografieren damit es überhaupt erst wirklich zum Ereignis wird. Es geht in dieser alltäglichen Fotografie weder um den Aufbau eines Images, noch versucht man, das Wesen eines Menschen darin zu erfassen. Sondern was zählt, ist überhaupt das Gesehen-Werden als solches. Dass das eine Art gesellschaftliche Sucht geworden ist, sehen Sie an solchen Phänomenen wie Big Brother oder auch an Webcams. Es gibt Leute, die ihr gesamtes Leben dauernd ins Netz stellen. Warum eigentlich? Das Leben genügt ihnen nicht. Es wird eigentlich erst wirklich, wenn sie gesehen werden.
Walter Benjamin, einer der frühren Theoretiker der Fotografie, hat in seinem berühmten Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit einiges über Fotografie gesagt und hat dort über ein »Menschenrecht, gefilmt zu werden« gesprochen. Das Zitat von 1937: »Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.« Sehr vorgreifend 1937, heute ist's Realität, dass dieser Anspruch tatsächlich gestellt wird. Gesehen werden wollen, das ist vielleicht schon immer ein Grundbedürfnis des Menschen, aber es zu realisieren, dazu dient die Fotografie und das unendliche Fotografieren im Alltag. Wir haben mit dem Phänomen zu rechnen, dass der Mensch mit dem puren Erleben sich nicht begnügt. Bis vor kurzem hatten wir die Polaroidfotografie und heute ist es die Handyfotografie. Die Handyfotografie wird nicht dazu benutzt, dass man Fotos macht, die man irgendwie archiviert oder gar verschickt. Das ist ja viel zu teuer, sondern man fotografiert und sagt: »Guck mal hier, hier sitzen wir!« Das ist eine breite Realität und zeigt dieses Bedürfnis nach gesteigerter Präsenz. Das Bild dient dazu, dieses Gefühl zu haben: ich existiere wirklich. Was ich gesteigerte Präsenz nenne, ist natürlich nicht so, dass der Gegenstand einen Zuwachs an Realität bekommt. Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen Realität und Wirklichkeit.
Realität, das ist die Dinghaftigkeit des einen und die besteht zum größten Teil in reiner Möglichkeit. Ein Ding, das da steht, bietet natürlich einen Anblick. Der Anblick ist seine Wirklichkeit, aber es enthält ja sehr viel mehr. Es enthält die Rückseite, es enthält die ganzen Eigenschaften, die sich dann zeigen, wenn man mit dem Ding umgeht. Das heißt, das Bild ist zwar ein Verlust an Realität, aber eine Steigerung an Wirklichkeit. Das heißt, dass die Erscheinung von Etwas prägnanter, deutlicher und eben auch seiender wird, im Sinne von fest, indem der Gegenstand im Bild erscheint.
Und nun zum Schluss ein Bild des Unscheinbaren. Das ist der Philosoph Hermann Schmitz. Vielleicht der bedeutendste lebende Philosoph Deutschlands, den aber fast niemand kennt. Phänomenologie ist die Philosophie von den Phänomenen. Und die Phänomene sind das, was sich zeigt. Wenn es dabei um Menschen geht, hat dieses Sich-Zeigen in der Regel einen aktiven Charakter. Eine Blume zeigt sich auch, sie geht auf. Sie tritt in die Sichtbarkeit heraus. Aber bei einem Menschen ist das so, dass er für die Sichtbarkeit immer etwas tut. Er ist sich bewusst, dass er gesehen wird. Er will gesehen werden und lässt sich sehen. Und gerade dieser Mensch, der das Thema der Phänomenologie erforscht, der hat offenbar kein Gefühl dafür, dass er gesehen wird. Er tut nichts dafür. Wenn man mit ihm redet, dann redet er aus seinem unendlichen Gedächtnis auf ein Stichwort eine halbe Stunde und erzählt, so wie hier auf dem Foto in einer Kaffeepause, unendlich aus seinem Schatz. Aber dass er dabei gesehen wird, ist ihm nicht bewusst.