Bernd Neugebauer

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Bernd Neugebauer

Der Fotograf und Schriftsteller Hervé Guibert

Bis ›auf einige Ausrutscher in die Fiktion‹ kann der überwiegende Teil der veröffentlichten Bilder und Schriften Hervé Guiberts seinem Projekt der Selbstenthüllung zugerechnet werden: Die Fotografien zeigen Familie, Freunde, Orte und Umstände von Guiberts Leben. Der Protagonist der meisten seiner Romane und Erzählungen heisst Hervé Guibert. »Die Hauptperson bin ich, und darum gibt es die Konstellation von Leuten, die ich liebe und die ich manchmal mißhandle. Aber mich mißhandle ich auch.« Die Maxime nach der Guibert dabei verfährt, lautet: Tout dire – Alles sagen. Das meint mehr als möglichst schonungslose Selbstenthüllung, die vor der Darstellung fremder und eigener intimer Details nicht zurückschreckt. Vielmehr bedeutet es, die Grundlage des Selbstbildes – das Phänomen der Subjektivität und die sich daraus ergebenden Probleme der Darstellung – zum Thema zu machen.

Guibert stellt die vermeintliche Selbstverständlichkeit, mit der wir unser Selbstbild entwerfen, in Frage. Es geht ihm um die Widersprüche und Paradoxien, die mit der Vorstellung vom Individuum und seiner Wahrheit verbunden sind. Das Projekt der Selbstenthüllung ist sein Versuch einer Autobiographie, die den Bedingungen postmoderner Subjektivität gerecht wird.

Im Projektcharakter der Selbstenthüllung liegt ein erster Gegensatz zur traditionellen Form der Autobiographie. Guibert weigert sich, sein Leben in die bündige, abgeschlossene Form von ein oder zwei Büchern zu gießen. Das gesamte Werk in seinem offenen Charakter bildet die Autobiographie. Guibert beschränkt sich nicht auf das Medium der Literatur. Eine entscheidende Funktion hat die Fotografie. Im Werk Guiberts ergänzen sich Fotografie und Literatur nicht einfach: Sie durchdringen einander. Fotografie ist für Guibert auch ein literarisches Mittel, eine der Form moderner Subjektivität angemessene Sicht seiner Selbst zu entwerfen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts erscheint die Vorstellung der Einheit der Person in wachsendem Maße suspekt. Unter anderem haben die mit Guibert befreundeten Barthes und Foucault gezeigt, wie Identität in der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft konstruiert wird. In einer zunehmend komplexeren Lebenswelt erfahren die Individuen ihre Subjektivität als fragmentiert und es fällt zunehmend schwerer, ein einheitliches Bild der eigenen Person zu entwerfen. Für die Selbstsicht in bildender Kunst und Literatur bedeutet dies, dass wenn man die Erfahrung der Fragmentierung ernst nimmt – wie es Guibert getan hat – die Wahrheit der Person nicht mehr in der Form traditioneller Autobiographie dargestellt werden kann.

Susan Sontag resümiert über die von der fotografischen Bilderflut produzierte fragmentierte Sicht der Welt: »Durch Fotografien wird die Welt zu einer Aneinanderreihung beziehungsloser, freischwebender Partikel, und Geschichte, vergangene und gegenwärtige, zu einem Bündel von Anekdoten und faits divers.« Analog dazu entwirft Guibert mittels Fotografie seine Sicht auf das fragmentierte Selbst.

Die Vorstellung der Identität widerspricht der Erfahrung zudem in einem, für Guibert ganz entscheidenden Punkt: dem Begehren. Die Selbstsicht Guiberts ist ohne das Begehren nicht denkbar: » … das Bild zu entsexualisieren, hieße es auf die Theorie zu reduzieren.« Fotografie und Begehren sind für Guibert – auch biographisch – untrennbar verbunden. Die Reflexion darüber nimmt entsprechend großen Raum in seinem Werk ein: Er beschreibt, wie er anhand der Bilder von Schauspielern seine Sexualität entdeckt, wie Fotografie zur Ersatzhandlung wird, die das begehrte, aber unerreichbare Objekt der Begierde in seinen Besitz bringt. Er erforscht am Verhältnis von erotischem und pornographischem Bild, wie sein Begehren standardisiert ist.

Die Kategorie der Authentizität ist für die Wahrnehmung (dokumentarischer) Fotografie, wie für die Wahrnehmung autobiographischer Literatur gleichermaßen von Bedeutung: Leser und Betrachter erwarten – wenn auch mit noch zu diskutierenden Unterschieden – dass im dokumentarischen Bild wie auch in bekenntnishafter Prosa eine Form der Wahrheit enthüllt wird. Die Wahrheit bzw. vermeintliche Objektivität der Fotografie besteht in der Beziehung zur Realität: Wir betrachten Fotos unter der Annahme, das technische Verfahren stelle sicher, dass die abgebildete Situation in der Realität vorgefunden wurde. Roland Barthes nennt dies das »Es-ist-so-gewesen« der Fotografie. Dem entspricht der »autobiographische Pakt«, den ein Autor seinen Lesern anbietet: Das Versprechen des Autors seine innere Wahrheit zu enthüllen.

Guibert produziert autobiographische Authentizität mittels eines literarischen Stils, der nach dem Modell fotografischer Unmittelbarkeit gestaltet ist: »Es ist die am wenigsten zurückliegende Spur des Gedächtnis, ja, von Gedächtnis kann kaum die Rede sein: wie etwas, das auf der Retina noch zu vibrieren scheint, ein Eindruck, beinahe ein Schnappschuss.« Sein Ziel ist es, Nähe zwischen Leser und Autor zu erzeugen: »Ich mag es, wenn es so direkt wie möglich zwischen meinem Denken und ihrem hin und her geht, wenn der Stil die Transfusion nicht behindert.« Dass Guibert den Produktionsprozess transparent macht, dient dabei wiederum dem »Realitätseffekt«: Er streut Indizien seiner autobiographischen Aufrichtigkeit, indem er den Leser daran erinnert, dass es sich trotz des Unmittelbarkeit suggerierenden Stils um bewusst gestaltete Prosa, zum Teil um reine Fiktion, handelt.

Als Fotograf inszeniert sich Guibert als Amateur. Das Leitmotiv seiner Fotografie lautet Privatheit: Photographiere nur die Leute, die dir am nächsten stehen, deine Eltern, deine Geschwister, deine geliebte Freundin, denn die alten Gefühle bestimmen das Photo … Fotografie dient ihm zur Vermittlung und Konservierung des subjektiven Erlebens – seiner Empfindung gegenüber der Welt.

Der Entwurf des eigenen Bildes ist nicht frei von der Willkür des Autors und die Wahrheit des Bildes hat ihre Grenze in dem, was ein Bild überhaupt zu enthüllen vermag. Der Titel Phantom-Bild für den Band mit autobiographischen Essays über sein Verhältnis zur Fotografie ist dabei programmatisch zu verstehen: Als Objekte der Betrachtung entwickeln Fotografien ein eigenes Leben und eine eigene Wirklichkeit. Der technisch exakte Abbildungsmechanismus ist kein Garant für die Wahrheit – im Gegenteil: Die Wirklichkeit droht unter der Macht des Bildes verschüttet zu werden. Die Fotografie produziert ein Phantom-Bild. Die Veröffentlichung des Selbstbildes entzieht es der Kontrolle seines Schöpfers. Es droht die Person, die es zeigt, zu verdecken: » … ich fürchte, dass sie mein Bild lieben und dass es dabei bleibt.« Guibert kann sein Bild, nicht jedoch dessen Rezeption bestimmen.

Das Werk entwickelt in der Rezeption eine für den Urheber unkontrollierbare Eigendynamik. Daher führt das von Guibert mit dem Projekt der Selbstenthüllung entworfene Selbstbild zu einem unausweichlichen Widerspruch. Er bedient sich der Fotografie, um zu vermeiden sein Leben in einer – postmodern formuliert – ›großen Erzählung‹ zu vereinheitlichen. Der mit Hilfe der Fotografie und analog zu ihr gestaltete dokumentarische und fragmentarische Charakter von Guiberts Werk, der Verzicht des Autors auf eine quasi-kausale Erklärung seiner Person soll die fragmentarische Wahrheit des Subjektes gegen die Vorstellung ihrer Identität verteidigen. Guibert will nicht auf Theorie reduziert werden. Dabei entwirft er in diesem Prozess – der letztendlich eine Form der Selbstfiktionalisierung darstellt – einen zweiten Hervé Guibert. Als Resultat des autobiographischen Handelns besitzt der Autor nunmehr zwei Identitäten: die der schreibenden Person und die der beschriebenen.

Damit ist der Widerspruch im Projekt der Selbstenthüllung benannt: Der Versuch der Negation von Identität führt dazu, dass nunmehr zwei Identitäten das Leben der Person Hervé Guibert bestimmen und bestätigen damit sowohl die Erfahrung der Fragmentierung und als auch die der Identität. Im posthum veröffentlichten Das Paradies formuliert Guibert diesen Widerspruch. Der Roman gipfelt in dem Paradoxon: »Ich sehe Fotos von Afrika an, und ich sehe genau, dass es Afrika nicht gibt.« Vielleicht liegt in der Formulierung dieses Widerspruchs die äußerste Form der Selbstenthüllung – die einzige dem Subjekt zugängliche Wahrheit über sich selbst.

Bernd Neugebauers Weblog bietet weitere Informationen und die Möglichkeit, den Vortrag als bebilderte pdf-Datei herunter zu laden:

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