Es geht mir in meinem Beitrag um die zeitbedingten Bezüge, die sich in Annegret Soltaus Werken festmachen lassen. Da sie neben ihrem Körper und dem anderer vor allem die Fotografie zu ihrem Medium gemacht hat, gilt es zu klären, inwieweit sie Impulse aus der Fotografie übernommen oder eben nicht übernommen hat, und mehr noch, inwieweit sie originär künstlerischen Auffassungen folgte.
Beginnen möchte ich Mitte der 60er Jahre, kurz bevor Annegret Soltau ihre künstlerische Ausbildung an der Hochschule der Bildenden Künste in Hamburg begann. Medienhistorisch waren sie geprägt vom Erstarken des Fernsehens, das angesichts seiner Unmittelbarkeit schnell an öffentlicher Relevanz gewann. Künstlerisch waren die Happenings und die Aktionskunst, die Fluxus-Bewegung, die Performances, die Conceptual Art sowie die Spurensicherungen am auffälligsten. Der Fotografie und wenig später dem Video kam die Aufgabe des Dokumentierens zu, um der Flüchtigkeit der Aktivitäten Dauer zu verleihen. Wolf Vostell und Joseph Beuys seien hier namentlich erwähnt. Neben dem Bildjournalismus als dominierendem Bereich in der Fotografie, etablierten Gottfried Jäger, Karl Martin Holzhäuser und andere 1967 eine explizit künstlerische Fotografie, die sich dem Primat des Abbildens total verweigerte und die sie »Generative Fotografie« benannten. Mit Hilfe von Lochblenden kreierten sie Bilder, die allein eigenen Gesetzen gehorchten.
Die 1968 vom stern ausgerichtete 2. Weltausstellung der Photographi machte die Frau zum Generalthema und deklinierte dies in zahlreichen journalistisch orientierten Fotografien durch. Das Thema darf als Reflex auf die feministischen Aktivitäten dieser Jahre gesehen werden. Frauen spielten auch in den Fotografien von Garry Winogrand eine Rolle. Er fotografierte sie, wie er sie auf der Straße antraf, unverstellt, spontan. Das war der männliche Blick, wie ihn auch sein amerikanischer Landsmann Emmet Gowin auf seine Frau Edith richtete. In Österreich vergewisserte sich Friedl Kubelka-Bondy ihrer eigenen Existenz in einem fotografischen Tagebuch, das sie über mehrere Jahre hinweg fortführte. Zur gleichen Zeit studierte Annegret Soltau an der Hochschule der bildenden Künste in Wien. Das war Anfang der 70er Jahre, als einzelne Künstler sich davon lösten, die Fotografie allein mit dokumentarischem Ziel einzusetzen, vielmehr lag ihnen an originären ästhetischen Bildern. Damit avancierten Fotografien zum eigenständigen Ausdrucksmittel in der Kunst. Hier reihten sich Annegret Soltaus 1975 entstandene erste Fotoarbeiten ein.
Bereits die Technik ihrer frühesten Arbeiten, die Radierung, ist als Metapher für Verletzung und als Spurenzeichnung zu verstehen. Denn die Radiernadel ritzt Linien in die Metallplatte, damit verwundet sie die spiegelglatte Oberfläche. Ebenso schreibt das Leben seine Spuren in Körper und Psyche ein, und jedes Erleben führt zu einer Wandlung, zu einem veränderten Ich.
Zeitgleiche Aktivitäten einiger progressiver Künstlerinnen wie die von Hannah Wilke in den USA und Natalia LL in Polen spielten karikierend mit der Sicht von Männern auf Frauenkörper. Ihre künstlerischen Aktionen dienten als Aufklärung über die Strategien, mit denen Frauen als Lustobjekte wie als Sexualpartner vermarktet werden. Zeitgleich brachte Robert Mapplethorpe die männliche Geschlechtlichkeit auf der Ebene der Homosexualität ins Spiel. Das Phänomen der sexualisierten Weiblichkeit nahm ebenso in der Modewelt neue Formen an. Einflussreichster Protagonist war Helmut Newton, der Weiblichkeit in noch stärker anreizender Weise zur Schau stellte, von den kritischen Frauen missfallend kommentiert.
Maßgebliche Impulse dieser Jahre fanden im fotografischen Werk von Francesca Woodman ihren Niederschlag, das neue Formen weiblicher Selbstreflexion genauso wie konventionelle Metaphern verwendete, wenn sie Melonen für das weibliche Geschlecht einsetzte. Oberflächlich zeigen die frühen Arbeiten von Annegret Soltau Parallelen, wie bei den Körpereinschnürungen mit Fäden. Auch Künstler visualisierten Körpererfahrungen. So Dieter Appelt, der sich Extremsituationen in der Natur aussetzte. Dabei ging es ihm weniger um Männlichkeit im rein geschlechtlichen Sinne. Im Unterschied zur weiblichen Wahrnehmung lotete er mehr das physische Erleben aus und ging dabei an die Grenzen des physisch Ertragbaren. Ende der 70er Jahre holte Klaus Honnef in Bonn die Dokumentarfotografie ins Museum und verwendete erstmals den Begriff des Autorenfotografen (übernommen aus dem Film).
Nach anfänglichen Übernähungen, in denen sie ihre fotografierten Selbstporträts spinnwebenartig mit Fäden überzog, kam Annegret Soltau zu den Vernähungen und damit der ästhetischen Form, die sich heute vornehmlich mit ihrem Namen verbindet. Dazu riss sie aus dem Fotopapier, das ihren Körper zeigte, Teile heraus und nähte diese dann wieder mit einem Faden zusammen. Von Beginn an räumte sie der Rückseite mit den Fadenverläufen die gleiche Bedeutung ein wie der Vorderseite mit dem neu entstandenen Bild. Die Arbeitsspuren bekamen so eine gewisse Eigenständigkeit.
In der zwischen 1977 und 1979 entstandenen Serie da-gegen-gehen verletzte sie sich selbst insofern, als sie ihre fotografierten Selbstporträts sukzessive von Bild zu Bild durch Zerkratzen auslöschte, bis zum bitteren Ende, einem total schwarzen Bild. Inhaltlich reagierte sie damit auf die Ängste, die ihre erste Schwangerschaft ausgelöst hatte, als sie befürchtete, sie könne der Künstlerschaft, die ihr so viel bedeutete, verlustig gehen.
Zur gleichen Zeit fotografierte Cindy Sherman ihre Untitled Filmstills und schlüpfte dafür in jeweils verschiedene Rollen. In ihren an die Filmwelt erinnernden Bilder spielte sie mit den stereotypen Rollen von Frauen und legte so den Fokus auf die Klischees von Weiblichkeit. Bei Nan Goldin, der zweiten amerikanischen Künstlerin, kam es Anfang der 80er Jahre zur Umkehrung des männlichen Blicks. Sie richtete den weiblichen Blick schonungslos auf die Männer und brachte gelebte Sexualität ins Bild. Nun erschien der Mann als Lustobjekt und Sexualpartner. Das zeugte von einem neuen Selbstbewusstsein der Frauen, die ihrer eigenen Wahrnehmung Nachdruck verliehen und diese in entsprechende Bilder umsetzten. Die Hamburger Künstlerin Carmen Oberst stellte die Erfahrungen des Mutterwerdens in metaphernhaften Bildern dar. Helmut Newtons Fotografie Sie kommen mit vier gehenden nackten Models setzte 1981 ein weiteres markantes Zeichen wachsenden Selbstbewusstseins der Frauen. Die obsessiven Betrachtungen mit der sich die Schweizerin Hannah Villiger ihrer Person näherte, ähneln den Bildern von Annegret Soltau. Ihre Technik war allerdings anders: Sie verwendete Polaroids und fragmentierte ihren Körper in sehr radikaler Weise und führte ihn aus verschiedenen Sichten in Tableaus zusammen. Ende der 80er Jahre begann Annegret Soltau mit ihren Grimma-Bildern (altnordisch Maske). Dazu vernähte sie Teile von Tierköpfen mit ihrem Gesicht und stellte so Bezüge zwischen Tier und Mensch her. In bemerkenswerter Konsequenz widerstand Annegret Soltau dem immer größer werdenden Arsenal der konstruierten und inszenierten Bildwelten der Fotokunst der 80er Jahre. In keiner Weise verführbar, prüfte sie weiterhin den eigenen Körper als Erkenntnisquelle, als Mittel der Offenlegung und Interpretation des Wirklichen in seinem Rückverweis auf die Totalität des Lebens: der Körper als Mittel der Selbstbestimmung und Verortung. »Es existiert nichts, was wirklich unversehrt wäre. Das Leben selbst ist eine ständige Verletzung. Es genügt die Tatsache, dass wir älter werden, im Laufe der Jahre immer brüchiger und empfindlicher werden.«
Genauso wie Annegret Soltau mit ihrem eigenen Körper als Erkenntnisquelle sowie als Ausdrucksmittel schonungslos umging, brachte sie in ihrer Serie generativ ihren eigenen Körper mit den nackten Körpern ihrer Tochter, ihrer Mutter und den ihrer Großmutter in unterschiedlichen Kombinationen zusammen. Indem sie auch in diesem Fall die Körper im übertragenen Sinn sezierte und einzelne Teile wie Brüste, Augen, Scham neu implantierte, folgte sie ihrer Intention, der patriarchalen Weitergabe, die matrilineare Verbindung und den Austausch der Generationen untereinander entgegenzustellen.
Wie Ina Busch, die Direktorin des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, in ihrer Laudatio hervorhob, die sie 2000 anlässlich der Vergabe des Wilhelm-Loth-Preises an Annegret Soltau hielt, ist es eine faszinierende Koinzidenz, dass just in den Jahren, in denen Annegret Soltau das ihr ureigenste Gestaltungsmittel der Fotovernähungen erarbeitete, in der Psychoanalyse der Franzose Didier Anzieu sein Konzept des Haut-Ichs vorstellte, und seine Schülerin Evelyn Sechaud dies unter dem Titel Vom Haut-Ich zur Schmerzhülle weiter ausbaute. Sie begründeten auf der Basis psychoanalytischer Theorie wissenschaftlich, was Annegret Soltau – von dieser völlig unabhängig – als künstlerische Idee zu den generativ-Arbeiten formuliert hat: »Das junge Mädchen trägt schon den alten Körper, die alte Frau noch den jungen Körper in sich. Der schmerzhafte Prozess soll sichtbar bleiben.« Annegret Soltaus Werk zeigt uns den Versuch der Konstruktion des weiblichen Ich in größtmöglicher Objektivität und in grundlegenden Facetten. Gerade aus diesem Grund verlässt sich die Künstlerin nicht auf das vermeintlich objektive Auge der Kamera und schreibt sich auf ihre Weise immer wieder in Schichten ein, sei es in die Metallplatte, die Filmschicht oder die Körperhaut. Die Erfahrungen von Schwangerschaft, Mutterschaft, Wechseljahren und das Sichstellen in die matrilineare Generationenfolge mag Frauen schneller als Männer lehren, dass die Konstruktion des Ich Gesetzmäßigkeiten folgt, die außerhalb der subjektiven Selbstbestimmtheit liegen.