Andreas Gefeller

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Andreas Gefeller

Supervisions

In der Vorbereitung zu meinen Beitrag für das Thema Konstruktionen der Wahrheit stellte ich fest, dass schon meine allerersten Aufnahmen damit zu tun hatten. Diejenigen, die meine Arbeiten kennen, werden nicht damit gerechnet haben, dass ich hier ein Foto vom Sternenhimmel zeige. Die Aufnahmen entstanden 1985. Da war ich 15 Jahre alt und wollte Astronom werden, obwohl ich keine Ahnung von Physik und Mathematik hatte, aber Sterne zu fotografieren machte mir viel Spaß. In der Astronomie wird Fotografie als Technik verwendet, um Unsichtbares sichtbar zu machen. Es stellt sich schon bei diesen Aufnahmen von damals die Frage nach der Wahrheit. Denn der menschliche Blick ist auf unsere natürliche Welt geeicht und wir können bei Dunkelheit nicht so viel wahrnehmen im Gegensatz zur Kameratechnik.

Meine Diplomarbeit Soma aus dem Jahr 2000. Eben haben wir den Mond gesehen und auch jetzt hat man das Gefühl, das könnte auf dem Mond entstanden sein. Den Begriff Soma habe ich dem Buch Schöne neue Welt von Aldous Huxley entliehen. Es ist die Droge, die den Menschen verabreicht wird, um sie einzulullen und darüber hinweg zu täuschen, wie sie kontrolliert werden. Die Arbeit ist auf Gran Canaria entstanden, wobei Gran Canaria als Ort insofern nicht wichtig ist. Es geht darum, eine Welt in Bildern zu erzeugen, die ein unheimliches Gefühl hinterlässt, die die Welt, in der wir uns bewegen, als Kulisse erscheinen lässt. Es ist nicht nur eine Arbeit über utopische Welten und über Orte, an denen wir uns aufhalten und die sehr lebensfremd und lebensfeindlich sind, sondern es ist gleichzeitig eine Arbeit, die unsere Wahrnehmung infrage stellt. Die Aufnahmen sind mit langen Belichtungszeiten entstanden, ohne dass ich noch Licht zusätzlich gesetzt hätte. So gesehen ist es die reine Wahrheit, die hier abgebildet ist. Analoge Fotografie, lange Belichtungszeit, normaler C-Print, nicht verfremdet und nicht manipuliert – man kann sagen, dass diese Bilder wahr sind. Dass sie uns trotzdem irreal erscheinen, liegt daran, dass wir nachts kein Farbempfinden haben. Die Kamera bzw. der Film hingegen kann das. Nachts sind die Farben genauso vorhanden wie tagsüber, nur wir Menschen sind nicht in der Lage, die Farben so wahrzunehmen. Deshalb könnte man behaupten, obwohl uns das verfremdet erscheint, ist es nicht verfremdet. Sondern das, was das menschliche Auge uns zeigt, ist verfremdet! So gesehen sind diese Bilder, die uns fremd und manipuliert erscheinen, viel wahrer als das, was wir nachts tatsächlich wahrnehmen.

Jetzt zu Supervisions, der Arbeit, an der ich seit 2002 arbeite. Ich habe mir dafür eine Art Konstruktion gebaut mit einem Stativ und einer Kamera, die senkrecht nach unten ausgerichtet ist. Vor mir her getragen, zwei Meter entfernt, fotografiert die Kamera aus ca. zwei Meter Höhe den Boden in kleinen Ausschnitten. Anfangs hatte ich noch keine Digitalkamera und belichtete sehr viele Filme, die ich anschließend einscannen musste, um die Bilder digital zusammensetzen zu können.

Ich begann, Oberflächen und urbane Räume abzuscannen. Wo keine Menschen sind, sondern eigentlich nur das, was sie hinterlassen haben oder Spuren eines Ereignisses. Der Betrachter muss sich die Bilder sehr genau ansehen, weil oft nur kleine Details drin sind, die verraten, worum es sich handelt. Um Fotos von Innenräumen zu realisieren, plane ich sehr viel und mache mir Notizen. Ich schreite den Raum mehrmals ab, drei, vier Reihen lang, mache von jedem Raum mindestens 30-40 Aufnahmen, die später so zusammengesetzt werden, als hätte man das Dach des Gebäudes abgenommen. Ich werde oft von Leuten gefragt, wie hast du denn die Wände von oben fotografiert. Ich habe die Wände nicht von oben fotografiert. Ich bewege mich nur an den Fußleisten lang und mache ein Foto von der einen Seite der Wand und eines von der anderen Seite der Wand. Dann stoßen die Bilder in der Mitte aufeinander.

Als Inspiration habe ich bei Wikipedia ein paar Begriffe herausgeschrieben, die ich zur Diskussion stelle, um anhand dieser Begriffe zu überlegen, wo sich die Arbeit verorten lässt. Zum Beispiel der Begriff Wahrheit. »Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.« Dann: Was ist Wirklichkeit? »Die physische Wirklichkeit umfasst alle Gegenstände der Außenwelt.« Stellt sich die Frage, ob nicht wahrnehmbare Dinge nicht wirklich sind. So auch bei der Arbeit Soma. Die empfindet man als unwirklich und trotzdem muss man sagen, dass sie komplett wirklich ist, nur entspricht sie nicht unserem schmalen Horizont, in dem wir wahrnehmen können. Den Begriff wahrnehmen finde ich ganz interessant. Wenn man ihn auseinander nimmt, dann heißt es, man nimmt etwas wahr oder man nimmt etwas für wahr. Das beinhaltet eigentlich schon, dass man glaubt, dass es wahr ist, aber das trifft noch keine Aussage darüber, ob es auch wirklich ist. Man nimmt es ja nur wahr. Interessant finde ich auch, dass man im Englischen sagt I see, wenn man etwas versteht. Aber ich weiß nicht, ob das uneingeschränkt gelten kann, nur weil man sieht, dass man auch versteht. Fiktion ist etwas »Erfundenes ohne Bezug zur Wirklichkeit«. Verfremdung ist auch ganz interessant: Wenn einem etwas fremd erscheint, heißt das nicht, dass es verfremdet ist. Umgangsprachlich benutzt man den Begriff oft so, dass wirklich eine Art manipulativer Akt dabei gewesen sein muss, wenn etwas verfremdet ist. In Wahrheit sagt der Ausdruck eigentlich nur, dass es uns fremd erscheint. So gesehen war die Arbeit Soma verfremdet, aber ohne Manipulation in dem Sinne. Wenn wir jetzt versuchen, diese ganzen Begriffe auf Supervisions anzuwenden, wird es ein bisschen schwierig und widersprüchlich.

Zum Beispiel die Plattenbauten, die ich fotografiert habe. Die Wohnungen liegen alle nebeneinander, es war ein sehr langer Plattenbau mit zehn Eingängen und alle Grundrisse, die man da sah, waren gleich. Ich finde es schön zu sehen, wie sich die Wohnungen einfach nur in der Farbe der Teppiche unterscheiden. Um wieder auf diese Begriffe zurückzukommen: Man könnte sagen, dass Supervisions wahr ist, weil nichts gezeigt wird, das es nicht gibt und weil nichts weggenommen wird, was es gibt. Ich manipuliere nicht in der Art, dass ich irgendetwas hinzufüge oder dass ich Gegenstände herausnehme, sondern alles, was auf den Bildern abgebildet ist, gibt es wirklich. Es gibt aber auch nicht mehr und auch nicht weniger. So gesehen ist Supervisions wahr. Supervisions ist aber gleichzeitig unwahr, weil es uns ein falsches Bild vermittelt, als sei das Dach des Plattenbaus abgenommen, was es natürlich nicht ist. Supervisions manipuliert und verfremdet. Das Innere einer Wohnung können wir nicht von oben sehen. Diese Perspektive ist unmöglich. Die Räume erscheinen fremd. So gesehen habe ich einzig und allein die Perspektive manipuliert, aber nicht das real vorhandene, und dennoch erscheint es uns fremd. Supervisions manipuliert nicht, da die Anordnung der Dinge der Wirklichkeit entspricht. Somit ist Supervisions fiktiv und dokumentarisch zugleich. Wie war Fiktion definiert? Etwas Erfundenes ohne Bezug zur Wirklichkeit. Der Blick, den gibt es nicht, und insofern kann man sagen, dass dieser Blick, diese Perspektive, fiktiv ist, während das, was abgebildet ist, dokumentarisch bleibt.

Das Holocaust-Mahnmal, die Gedenkstätte in Berlin. Die Stelen sind unterschiedlich hoch, von ganz niedrig bis vier Meter. Zuerst habe ich mich geärgert, dass immer noch Schnee lag, als ich fotografieren wollte. Ich hatte vor, ganz kühl nur den Boden mit den Betonstelen zu fotografieren. Aber letztendlich ist es viel besser, wenn man die Spuren der Menschen erkennen kann, die durchgelaufen sind. Das macht das Ganze interessanter, davon abgesehen, dass diese Schneeverwehungen die Stelen besser hervorheben. Wichtig sind hier diese zwei Ebenen der Betrachtung. Zunächst sieht man nur das Raster. Andererseits die Details, die von diesem Raster abweichen. Meiner Meinung nach gibt das ein gutes Gefühl dieser Ausweglosigkeit wider, denn das Bild hört nach rechts, links, oben und unten nicht auf. Es scheint ewig so weiterzugehen. Diese Sinnlosigkeit, ob man den Gang langgeht oder den anderen, man kommt nirgendwo hin. Es gibt kein Zentrum. Wenn man direkt vor Ort ist und in der Mitte steht, einen Gang lang schaut, dann sieht man am Ende des Ganges die Autobusse vorbeifahren und auch andere Touristen. Ich war ein bisschen enttäuscht und fand es nicht so bedrohlich, weil immer ein Ausweg zu erkennen war, im Gegensatz zum fertigen Bild hier.

Auch der Faktor Zeit ist in manchen Bildern zu erkennen. In diesem Frühjahr bzw. Spätwinter habe ich einen umgestürzten Baum fotografiert, nachdem der Orkan Kyrill übers Land gefegt war. Zum Zeitpunkt, als ich anfing, zu fotografieren, hatte es kurz vorher geschneit, aber es war zu warm, als dass der Schnee liegen geblieben wäre. Ich habe angefangen zu fotografieren, da lag der Schnee noch. Je weiter man nach unten schaut, desto weniger Schnee ist da, weil nach vier oder fünf Stunden der Schnee geschmolzen war. Je näher man rein zoomt, umso mehr löst sich der Schnee regelrecht in Pixel auf, da Tautropfen von den Bäumen darauf gefallen sind, die diese Struktur erzeugt haben.

Zum Ende jetzt: Das sind Golfbälle. Jetzt zeige ich es andersherum. Ich zoome nicht in das Bild, sondern ich zoome raus und aus diesen einzelnen Golfbällen wird jetzt doch wieder etwas anderes, was einen vielleicht an Bakterien im Elektronenmikroskop erinnert. Oder wenn man noch weiter rauszoomt, wieder an einen Sternenhimmel.

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