Dr. Bernd Stiegler

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Dr. Bernd Stiegler

Konstruktionen der Wahrheit

Die Photographie als Reflexionsmedium Anläßlich der großen Gursky-Werkschau im Münchener Haus der Kunst erschien in der Zeit ein Artikel von Jan Schmidt-Garre, der Gursky auf seiner Reise nach Nordkorea begleitete, mit dem in vieler Hinsicht programmatischen Titel Das perfekte Bild vom totalen Staat. Schmidt-Garre berichtet dort nicht nur von der »bizarren Reise« in ein von der Außenwelt abgeschottetes Land, das den wenigen Besuchern, die überhaupt einreisen dürfen, eine sorgfältig inszenierte Realität präsentiert, sondern auch von der photographischen Arbeit am Bild, von der Suche nach dem »perfekten Bild«. Gursky besuchte in Nordkorea das Festspiel Arirang, das mit über 100.000 Mitwirkenden in der Arena des May-Day-Stadions in Pjöngjang aufgeführt wird und eine mythische Liebesgeschichte als politische Parabel inszeniert. Es erscheint fast so, als wolle das »perfekte Bild« nicht nur eine ideale Repräsentation des Gesehenen leisten, sondern auch die gesamte Tradition der Photographie und die unterschiedlichen Formen einer photographischen Konstruktion der Wahrheit miteinschließen. So verwandelt sich der Bericht der Reise nach Nordkorea in eine geraffte Reflexion über die theoretischen, ästhetischen und diskursiven Gesetze des Reichs der Photographie. Die Reise nach Nordkorea wird zu einer Erkundung der Grenzen, Formen und Regeln der terra photographica.

Das perfekte Bild

»Wie so oft hat Andreas Gursky sich nicht zufrieden gegeben, bis er einen Standpunkt gefunden hat, von dem aus er das reale Geschehen ungegenständlich wirken lassen kann, trotz der Fülle an Details, für die er berühmt ist.« So beschreibt Schmidt-Garre die Suche des Photographen nach einem idealen Beobachterstandpunkt, die ihr Ende auf der Ehrentribüne findet, wo Gursky »die Blumenvasen unter dem Kim-Foto zur Seite schiebt, um seine Kameras besser aufstellen zu können«. An dieser Beschreibung ist vieles bemerkenswert: So mag es durchaus überraschen, dass von einem solchen idealen Beobachterstandpunkt überhaupt die Rede ist, da zwar einerseits die Photographie historisch eine Weiterentwicklung der Camera obscura darstellt, die ihrerseits mit der künstlerischen wie technischen Konstruktion der Zentralperspektive eng verbunden ist, die so zu einem künstlerischen, historischen wie epistemologischen Erbe der neuen technischen Bilder wird, die Photographie aber andererseits versuchte, sich von diesem Erbe loszusagen, sich von der Last der ›schweren Hand‹ der Malerei zu befreien und gerade in Absetzung von dieser Tradition eine Revolution der Sichtweise und eine Konstruktion einer anderen visuellen Wahrheit emphatisch proklamierte. So entwarfen etwa Moholy-Nagy, Rodtschenko oder Hausmann die sogenannte Theorie des Neuen Sehens als radikalen Bruch mit der ihrer Ansicht nach historisch obsoleten Zentralperspektive, die die Wirklichkeit verstelle und dem Betrachter den Schleier der Norm der Tradition über die Augen lege. Die bildlich-kompositorischen Mittel dieser Revolution waren nicht nur neue Verfahren wie etwa das Photogramm, sondern auch neue Perspektiven, wie eine starke Über-, Unter- oder Aufsicht und nicht zuletzt eine formale Abstraktion in den Kompositionen der Photographien.

Wenn Gursky nun auf der Ehrentribüne unter dem Photo von Kim Il Sung, für das seinerseits in der Inszenierung gerade als photographierter Blick des toten Führers die ideale Perspektive auf das Geschehen vorgesehen war, seine Kameras auf das Festspiel blicken läßt, so geht es ihm, so Schmidt-Garre, um die Verwandlung der »perspektivischen Staffelung« in ein »flächiges Geschehen«, um die Transformation des Gegenständlichen ins Ungegenständliche, um die Übersetzung des Konkreten in ein abstraktes Bild. Es geht ihm, mit anderen Worten, darum, beide Traditionen, die in jeweils unterschiedlicher Weise ästhetisch, diskursiv und epistemologisch eine Wahrheit der Photographie begründeten, ins Bild zu bannen.

Montage des perfekten Bildes

Jedoch ist die Suche keineswegs abgeschlossen: »Wie die unsichtbare Regie in Nordkorea gibt auch Andreas Gursky sich mit der Wirklichkeit, so wie sie ihm begegnet, nicht mehr zufrieden.« Die Aufnahmen, die er auf analogem Weg anfertigt, sind nur das »Rohmaterial, aus dem er sein Bild montieren wird.« Die photographierte Welt ist nicht genug und die ideale Beobachterperspektive nicht hinreichend. Sie entzieht sich zumindest partiell dem Zugriff des Photographen, indem sie sich der Kontingenz nicht entziehen kann. Sie reicht gerade als Ikone des Realen, als die sie angesehen wurde, nicht an die rituelle Funktion der realen Ikone heran.

Die Unzufriedenheit Gurskys mit der photographierten Wirklichkeit hat eine lange Tradition, die zugleich unterschiedliche Konstruktionen der Wahrheit begründete. Im 19. Jahrhundert stand die Photographie in eigentümlicher Weise zwischen den wissenschaftlichen und den ästhetischen Diskursen, die in vielfältiger Weise auch in die Photographietheorie der Gegenwart übersetzt wurden. Seitens der Wissenschaften wurde ihre Aufzeichnungsqualität gelobt, der Detailreichtum der Aufnahmen gepriesen und ihre technischen Möglichkeiten, die die begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten des menschlichen Auges überschritten, ausgelotet. Die Begründung einer visuellen Objektivität der Wissenschaften folgte dem Leitfaden der Photographie und hatte weitreichende Konsequenzen für die naturwissenschaftliche Forschung und ihre epistemologische Begründung. Seitens der Kunst wurde hingegen die Photographie als Oberfläche ohne Tiefe, als kaltes, totes Bild ohne Leben oder als apparativ-technische Aufzeichnung ohne weitergehende Einflußmöglichkeit des Photographen scharf kritisiert. Die Ästhetik und auch die Theorie der Photographie reagierte darauf mit diversen Verfahren, um für die Einbildungskraft des Künstlers wie des Betrachters eine Schneise in das Dickicht der Phänomene zu schlagen und so für die Photographie den Aufstieg in den Rang der Kunst zu erkämpfen. So arbeiteten Photographen wie O.G. Rejlander oder Henry Peach Robinson mit mehreren Negativen, aus denen sie ihre Bilder nach aus der bildenden Kunst entlehnten Regeln komponierten und montierten. Andere, wie etwa die piktorialistische Photographie der Jahrhundertwende, entwickelten technische Verfahren, um mittels einer Unschärfe der Bilder die inkriminierte Detailgenauigkeit der Photographie wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest einzuklammern und einzuschränken. Die Übersetzung des analogen in das digitale Bild bei Gursky wiederholt nun genau den historischen Übergang, der diese scharfe Trennung obsolet gemacht hat und zugleich zu einer eigentümlichen Verschiebung der Begründungsformen photographischer Konstruktionen der Wahrheit führte. Dank der Digitalisierung kann der Photograph auf seine Unzufriedenheit mit der photographierten Wirklichkeit mit beliebigen Eingriffen in das photographische Material reagieren und ein Bild montieren, das seiner Vorstellung am nächsten kommt und damit zugleich den Traum der Photographen Realität werden lassen, die sich um die Photographie als Konstruktion einer künstlerischen Wahrheit bemühten.

Zugleich aber wurde der Photographie ihr dokumentarischer Charakter, ihr Status als unabweisbares visuelles Zeugnis abgesprochen und das Ende des photographischen Zeitalters konstatiert, obwohl die wissenschaftliche, medizinische oder (sozial-) dokumentarische Photographie nun mit digitalen Verfahren arbeiten und auch die gesellschaftlichen Gebrauchsweisen der Photographie in vielen Bereichen unverändert Bestand haben und nach wie vor auf die Photographie als Ikone des Realen und als Medium der Authentizität setzen. Auch diese keineswegs aufgegebene Tradition der Photographie findet in dem Reisebericht ihren Widerhall. »Gursky arbeitet«, so heißt es, »wie ein Filmregisseur, der dokumentarisches Material im Schnitt verdichtet und, im Idealfall, über den Umweg der Manipulation und persönlichen Einfärbung zu einer gesteigerten, aufgeladenen Authentizität gelangt.« Die Bilder sind gerade dank ihrer künstlerischen Gestaltung qua Manipulation nicht nur Kunstwerke mit der ihr eigenen künstlerischen Authentizität, sondern auch verdichtete Dokumente und das perfekte Bild stellt zudem eine Art montierte Überblendung von Filmstills dar – womit nun auch der Film und mit ihm die Ordnung der Zeit Teil des Bildes wird.

»Ich behaupte nie«, so wird Gursky zitiert, »das Bild sei eine Abbildung der Realität. Es ist immer eine Mischung aus Erfindung und Realität, eine Interpretation von Realität. Auch im Kopf vermischen sich ja die Eindrücke von eineinhalb Stunden Arirang. Aber ich gebe die Verknüpfung mit dem Dokumentarischen nie auf.« Und diese Verknüpfung hat es hier mit einer Realität zu tun, die ihrerseits bereits radikal inszeniert ist. Die Inszenierung der Photographie als ein perfektes Bild, das höchst unterschiedliche Formen der photographischen Konstruktion der Wahrheit zu versammeln sucht, sieht sich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die in dem Gesamtkunstwerk Arirang den totalitären Staat in ästhetische Erfahrung zu übersetzen sucht. Ob beide Formen der Inszenierung zusammengenommen das »authentischste Abbild, das von der nordkoreanischen Realität gemacht werden kann«, wie Jan Schmidt-Garre in einer rhetorischen Frage am Ende seines Textes formuliert, ergeben, kann bezweifelt werden. Nicht bezweifelt werden kann jedoch, daß sie die Strategien einer ästhetischen, photographischen wie politischen Konstruktion von Wahrheit aufnehmen und inszenieren. Und wir täten als Betrachter gut daran, diese Inszenierungen nicht als performativen Effekt eines ästhetischen Erlebnisses wahrzunehmen, sondern als Konstruktionen zu befragen, die jede für sich auf Performanz setzen.

Zitate aus: Jan Schmidt-Garre, Das perfekte Bild vom totalen Staat, in: Die Zeit vom 15. Februar 2007, Seite 41

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