Dr. Christoph Schaden

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Dr. Christoph Schaden

Konstruktionen der Wahrheit – Zeit der Konstruktionen?

Wenn wir mit Worten über Bilder streiten, haben wir es gemeinhin mit einer kommunikativen Situation zu tun, in der nicht nur der behandelte Gegenstand, sondern auch Begriffe auf dem Prüfstand stehen. Es sind in unserem Fall gleich zwei Begriffe, die in ihren Bedeutungsgehalten sehr tief und weitreichend sind. Konstruktion, im Titel dieses Symposions im Plural verwendet, und eben die Wahrheit. Letztere mutet heutzutage fast heroisch an, und beide Begriffe halten im Zusammenklang wiederum eine These bereit. Eine These, die wohl besagt, dass verschiedene Konstruktionen von Wahrheit in der Gegenwartsfotografie existieren und verstärkt angewandt werden. […]

Befinden wir uns, was die aktuelle Fotografie betrifft, tatsächlich in einer Zeit der Konstruktionen? […] Für die Photozeitschrift Photonews schreibe ich seit rund drei Jahren regelmäßig Kolumnen und Kritiken, in denen das, was im Kulturbetrieb gerade virulent ist, in Augenschein genommen wird. Bei der Recherche zu einigen dieser Artikel fand ich Indizien, dass das photographische Medium unter den Bildkünsten derzeit auch hierzulande in nie gekanntem Sinne prosperiert. Eine Zahl mag dies stellvertretend verdeutlichen. Eine Nachfrage bei dem Periodikum Photography Now ergab, dass im letzten Jahr allein in Deutschland 2.200 Ausstellungen zur Fotografie stattgefunden haben. Umgerechnet bedeutet dies, dass 2006 täglich im Durchschnitt sechs Fotoausstellungen eröffnet worden sind. Vor zehn Jahren hätte man eine solche Zahl nicht einmal zu träumen gewagt.

Auch wenn dies nur eine summarische Angabe ist, kann man meines Erachtens daraus zwei Erkenntnisse ableiten: Erstens scheint es im Kulturbetrieb offenkundig eine gesteigerte Nachfrage nach fotografischen Bildern und Ausstellungen zu geben, die Fotografie scheint im Reigen der tradierten Bildkünste fest verankert. Zweitens deutet dieser Sachverhalt darauf hin, dass in diesen fotografischen Positionen derzeit etwas verhandelt wird, was genau diese tradierten Bildkünste anbelangt. Kann diese Marktentwicklung etwas mit unserem Konstruktionsbegriff zu tun haben? Erlauben Sie mir einen etwas unkonventionellen Seitenblick auf unser Thema.

Kann Größe eine Relevanz für unser Thema sein? Hier sehen Sie eine Dokumentaraufnahme des Fotokünstlers Max Regenberg, der beispielhaft das Phänomen einer potenzierten Bildnachfrage in Augenschein genommen hat. Es handelt sich um die größte Bilderschau aller Zeiten, die in diesem Lande jemals stattgefunden hat: die Plakatkampagne Augen-Auf – Der neue Auris, die im Februar bundesweit auf 202.000 Großflächen im Außenraum geschaltet worden ist. Die Fakten sind denn auch superlativ. In der Summe handelte es sich um eine millionachthunderttausend Quadratmeter pures Bild, präsentiert in 82 Großstädten über 100.000 Einwohner, platziert im öffentlichen Raum, aus insgesamt 27 Bildern komponiert und für zehn Tage gehängt. So offensichtlich es war, dass diese Werbekampagne eine kollektive visuelle Hypnose auf dieses Fahrzeug hin bewirken wollte, so reizvoll war eine genauere Analyse. Denn die Kreativagentur spielte so virtuos mit den Bildern im Raum, dass dieser wiederum in ein fast cinemaskopartiges Bild mutierte. Man kann sagen, sie konstruierte bewusst ein vielgestaltiges Bild im Raum mit dem Ziel, unsere Wahrnehmung auf den Fetisch zu lenken.

Nun, was hat diese Konstruktion der Werbung mit unserem Thema zu tun? Einführend ist zu attestieren, dass es wohl zwei Richtungen gibt, auf die hin wir den Begriff anwenden können. Zunächst im einfachen Sinne auf die Machart und die spezifische Entstehung des Bildes hin, wie man zunächst etwa bei Thomas Ruff fragen kann, oder eben auf den Wahrnehmungsprozess. Natürlich sind beide Richtungen sowohl für das künstlerische als auch für das Werbebild legitim und für deren Verständnis vielleicht auch notwendig.

Die Größe des Bildes ist das eine, sein Kontext das andere. Man sprach in jenen Tagen viel und kontrovers über die Ausstellung von Andreas Gursky im Haus der Kunst in München, die bis in die spezifische Hängung hinein sehr be-wusst in den Feuilletons wahrgenommen wurde. Max Regenberg machte mich darauf aufmerksam, dass im übrigen auch Andreas Gursky einmal mit dem Großflächenplakat gearbeitet hat. Hier sehen Sie eine hinreißende Aufnahme aus dem Jahr 2002, als er sein berühmtes Rheinbild für eine Kommunalwahl in Düsseldorf der SPD zur Verfügung stellte. Bemerkenswert dabei ist, dass die Auflage hier wie bei seinen künstlerischen Bildern auf sechs begrenzt war, auch die Größe ist durchaus vergleichbar. Von Delikatesse ist zweifellos, wie Regenberg hier das Werbebild im Raumraum durch den örtlichen Kontext kommentiert. Da werden der Fluss zum Asphalt und das Ufergrün zur Stadtwiese. WIR SCHAFFEN DAS, steht auf dem Plakat nebenan.

»Wie hat Andreas Gursky seinen beispiellosen Medienerfolg geschafft?«, hat man in diesen Tagen vielfach diskutiert. Im Hinblick auf unser Thema ist diese Frage hinsichtlich der kalkulierten Außendarstellung des Künstlers relevant. Gursky äußerte bei der Eröffnung der Ausstellung, dass nach seiner Auffassung die Wirklichkeit überhaupt nur darzustellen sei, indem man sie konstruiere. Wohlgemerkt, der Bildkünstler spricht hier von Wirklichkeit, nicht von Wahrheit. Als ich dieses Statement hörte, dachte ich zunächst an seine Arbeit Rhein II aus dem Jahr 1998, die insofern einen Paradigmenwechsel einleitete, da hier zum ersten Mal eine digitale Veränderung der Aufnahme von Seiten des Künstlers übrigens sehr selbstbewusst eingestanden wurde.

Ich war mir nicht sicher und griff nach einem Nachschlagewerk, um mich zu vergewissern, was unter dem Begriff der Konstruktion überhaupt verstanden werden kann. Wie Sie hier sehen, hält der Konstruktionsbegriff eine sehr facettenreiche Bedeutungspalette bereit. Zum einen bezeichnet er ganz konkret die Bauart eines Gebäudes oder auch einer Maschine. Mathematisch gesehen handelt es sich um die Darstellung einer Figur mit Hilfe gegebener Größen. Linguistisch um die Zusammensetzung von Wörtern zu einem ganzen Satz nach syntaktischen Regeln. Überaus interessant ist auch die definitorische Angabe, dass es sich bei einer Konstruktion auch um die Darstellung von Begriffen in der Anschauung handeln kann. Und im philosophischen Sinne um den Aufbau eines der Erfahrung vorausgehenden Begriffsystems. Alternativ kann es sich bei einer Konstruktion auch lediglich um einen wirklichkeitsfremden Gedankengang handeln. Und nicht zuletzt kann darunter ein Entwurf, eine Entwicklung oder ein Plan gemeint sein. […]

Ich hatte also, was die Auslegung des Gursky-Zitats anbelangte, die Qual der Wahl. Ging es um Begriffe in der Anschauung, um die Umsetzung eines Entwurfs oder sogar um die bildhafte Formulierung eines wirklichkeitsfremden Gedankens, der dann doch die sog. Wirklichkeit fassen sollte? Eine Antwort erhielt ich überraschenderweise von einer völlig anderen Seite. Vom Periodikum Photography Now bekam ich vor wenigen Wochen den Auftrag, Franziska von Hasselbach von der Galerie Sprüth-Magers zu interviewen. Frau von Hasselbach ist die langjährige Assistentin von Andreas Gursky. Sie war sehr auskunftswillig hinsichtlich der Frage, wie Andreas Gursky seine Bildmotive findet und wie er mit seinen Bildern arbeitet. Aus der eigenen Seherfahrung war mir zwar bekannt, dass seine Bilder des privilegierten Blicks, wie sie genannt werden, aus verschiedenen Aufnahmen und Blickpunkten zusammengesetzt werden, wie hier beispielhaft zu sehen an seiner Aufnahme der Formel 1 Strecke in Bahrain aus dem Jahre 2005. Eine genauere Nachfrage brachte allerdings Erstaunliches zutage: Frau von Hasselbach erzählte mir: »Klar hat er ein Labor, in dem er technische Mitarbeiter hat. Jedoch wenn es um die Produktion selbst geht, das Fotografieren, das macht er selbst. Es gibt einen Assistenten, der mit ihm reist. Andreas ist mit allen Produktionsschritten des Bildes selbst betraut, es gibt also keine Arbeitsteilung. Der Prozess der Herstellung ist eigentlich klassisch. Er macht die Photos, legt sie nebeneinander, schneidet sie aus und klebt sie zusammen. Eine ganz normale Collagetechnik. Dann guckt er, ob es funktioniert. Die Feinarbeit erfolgt dann am Computer. Es ist also nicht so wie bei Jeff Wall oder Gregory Crewdson, die einen ganzen Mitarbeiterstab haben.«

Man sollte nicht denken, dass im digitalen Zeitalter eine so handfeste künstlerische Intervention wie die Collage noch den Ausgangspunkt für solche hybriden Bildfindungen à la Gursky bildet. Sein Statement, dass Konstruktionen erst Wirklichkeit fassen könne, stand dann in einem anderen, durchaus kunsthistorischen, aber auch technikbezogenen Licht. Angelockt durch die handwerkliche Machart des Bildes fand ich eine zeitgemäße Definition von Konstruktionen, die nach meiner Auffassung zahlreiche Übereinstimmungen mit den Strategien und Vorgehensweisen haben, die heute Künstler wie Andreas Gursky anwenden. Wir lesen hier in dieser jungen Definition aus dem Internet, dass eine technische Konstruktion ein komplexes Gebilde zur Umwandlung und Lenkung von Stoff-, Energie- und Signalflüssen als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses sei. Als physikalische Grundoperationen werden genannt: Wandeln (Rückwandeln), Vergrößern (Verkleinern), Richtung ändern (Richtung ändern), Leiten (Isolieren), Verbinden (Trennen), Fügen (Teilen,) Speichern (Entspeichern). Durchaus probate Strategien, wie ich denke, die sich auch im Künstlerischen, so auch im Fotografischen antreffen lassen.

Gerne möchte ich denn auch dafür plädieren, dass wir heute, wenn wir von Konstruktionen sprechen, diese Strategien mit bedenken.

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