An diplomatischem Eifer für die Sache der Humanität hat es nicht gefehlt in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg. Pakte, Resolutionen, Schlussakte, Protokolle und Erklärungen stapeln sich zu stolzer Höhe. Zuunterst liegt ein aufrüttelndes Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen, die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Vor 60 Jahren, am 10. Dezember 1948 wurde sie von der Generalvollversammlung der Vereinten Nationen verkündet.
Der französische Diplomat Stéphane Hessel schreibt in seinen Erinnerungen: »Es geschah in den eilig hergerichteten Sälen des Palais Chalione. Wir saßen als Mitglieder des Sekretariates auf den hinteren Rängen. Als der Präsident die Abstimmung eröffnete, überkam uns ein beklemmendes Gefühl. Würde die UdSSR dagegen stimmen, würde sie sich der Stimme enthalten, was würde Saudi Arabien tun? Der Präsident verkündete 43 Stimmen dafür, 0 dagegen, 8 Enthaltungen. Vielleicht einer der bewegendsten Augenblicke meines Lebens, gewiss einer der letzten Momente des Konsenses innerhalb der internationalen Gemeinschaft.« Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte war nicht mehr als ein Postulat.
Heute baut darauf ein System von Konventionen auf, das verbindende Rechte und Pflichten formuliert. Es gibt keinen Staat mehr, der nicht wenigstens einige der Konventionen des Menschenrechtsschutzes ratifiziert hätte. Die Papierform der Menschenrechte ist vorzüglich. Die Menschenrechte sind aufgestiegen zum Schlüsselbegriff der internationalen Politik. Sie finden sich in fast jeder staatsmännischen Rede. Die in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündeten Normen gehören zum Völkergewohnheitsrecht. Wie aber sieht es mit der menschenrechtlichen Realität aus?
Es gibt ein alljährliches Register dieser Realität: die Jahresberichte von Amnesty International. Der letzte Bericht, vom Mai 2008, ist eine Ode der Tristesse und Verzweiflung und liest sich wie eine Todesanzeige für die Menschenrechte. Vergewaltigung, Mord, Rechtlosigkeit, unterschlagene Freiheit auf Hunderten von Seiten. Wir lesen in einem Register der Grausamkeiten, immer wieder finden sich die bedrückenden Wörter ›weiterhin‹ und ›nach wie vor‹. Um die Menschenrechte steht es schlecht, sie sind ein Opfer im Kampf gegen den Terror geworden. Weltweit werden die bisherigen Fundamentalgewissheiten unter Vorbehalt gestellt. Der Vorbehalt lautet: »Der rechtstaatliche Katalog ist schön und gut, aber nur solange er die Bekämpfung des Terrorismus nicht behindert.« Am weitesten geht dabei die US-Regierung. Wer real oder vermeintlich in den Dunstkreis des Terrorismus gerät, ist nahezu vogelfrei. Vogelfrei war im Mittelalter der friedlose Straftäter, über den die Reichsacht verhängt wurde. Niemand durfte ihn bei Strafe unterstützen, beherbergen, ernähren, er war aus der Rechts- und Friedensgemeinschaft ausgeschlossen, der Verfolgung durch jedermann preisgegeben. Hierzulande regen sich viele auf, weil auch Deutschland in diesem Schwarzbuch der Menschenrechtsverletzungen zu finden ist. Überfälle auf Ausländer gehen doch, so heißt es dann, nicht vom Staat aus. Gewalttaten in Gefängnissen sind bedauerliche Einzelfälle. Misshandlungen in Polizeigewahrsam auch nur Einzelfälle. Diskriminierung ethnischer Minderheiten doch nicht in Europa.
Die Menschenrechtsberichte wecken den Heuchler im Europäer. Wir stellen uns hin wie der Pharisäer im Lukasevangelium. Gott, ich danke dir, dass wir nicht so sind wie die bösen Diktatoren dort in den Entwicklungsländern, die foltern und morden und selbst Frauen und Kinder nicht schonen. Pontius Pilatus ist heute eine große Nummer auf dem internationalen Parkett. Auch die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates, die gemäß der UN-Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens tragen, haben Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Sie haben Interventionen zugunsten der Opfer von Kriegsverbrechen blockiert und sie haben verhindert, dass die Täter zur Verantwortung gezogen wurden. Staaten haben Botschafter mit Schlips und Kragen. Die Menschenrechte haben auch Botschafter. Es sind die Flüchtlinge und Asylbewerber. Sie sind die Botschafter des Hungers, der Verfolgung und des Leides. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ihre Depesche. Indes, Europa mag diese Botschafter nicht empfangen. Die europäischen Außengrenzen wurden so dichtgemacht, dass es dort auch für die Humanität kein Durchkommen mehr gibt. Manchmal werden Tote, manchmal lebende Flüchtlinge an den Küsten Andalusiens angeschwemmt. Das Mittelmeer ist ein Gottesacker geworden für viele, die sich auf den Weg gemacht haben. Manchmal bleibt ein Stück Flüchtling an Stacheldrahtzäunen hängen, mit denen Spanien in seinen Enklaven in Marokko den Weg versperrt. Nach Schätzungen von Klaus Töpfer, dem ehemaligen Leiter des UN-Umweltprogramms in Nairobi und stellvertretenden Präsidenten der Deutschen Welthungerhilfe, sind 18 Mio. Afrikaner seit Jahren auf der Flucht, von Land zu Land, nach Südafrika oder nach Europa. Sie fliehen nicht nur vor dem Militär und Polizei oder vor Bürgerkrieg und Folter. Vielen Millionen Menschen droht absolute Armut und Hunger. Und es lockt die Sehnsucht nach einem Leben, das wenigstens ein wenig besser ist. Europa nimmt davon nur dann Notiz, wenn eine zerlumpte Vorhut den Stacheldraht in Ceuta oder Melina erklimmt und die spanischen Grenztruppen auf Menschen schießen, die aus Ländern geflohen sind, die einst Entwicklungsländer hießen. Dort entwickelt sich aber heute nur noch Aids, Hunger, Chaos und Korruption. Die Flüchtlinge gelten als Feinde des Wohlstandes.
Die Europäische Union schützt sich vor ihnen wie vor Terroristen. Man fürchtet sie nicht wegen ihrer Waffen. Sie haben keine. Man fürchtet sie wegen ihres Triebes. Sie wollen nicht krepieren, sie wollen überleben. Sie werden behandelt wie Triebtäter. Und sie werden betrachtet wie Einbrecher, die einbrechen wollen in das Paradies Europa. Deswegen wird aus dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, wie sich Europa selbst nennt, die Festung Europa. Das Fernsehen lockt noch in den dreckigsten Ecken der Elendsviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses. Die Ausgeschlossenen drängen nun an die Schaufenster, hinter denen die Reichen der Erde sitzen. Der Druck vor den Schaufenstern wird stärker werden. Ob uns diese Migration passt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Migration fragt nicht danach, ob die Deutschen ihr Grundgesetz geändert haben. Sie fragt nicht danach, ob einige EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen. Die Migration ist da. Sie wird einmal alle Probleme, die verhandelt werden, in den Hintergrund drängen. Bei der EU-Konferenz im finnischen Tampere 1999 räumten die Staats- und Regierungschefs der EU erstmals ein, dass eine Politik des bloßen Einmauerns nicht funktionieren kann. Damals wurde zum x-ten Mal beschlossen, die Außengrenzen noch besser zu sichern und Schlepperbanden noch besser zu bekämpfen, aber was sollen Flüchtlinge eigentlich anderes machen als sich Fluchthelfern zu bedienen, wenn es sonst keine Möglichkeit zur Flucht gibt. Andererseits räumten sie ein, dass Verfolgte weiterhin Aufnahme finden müssen. Flüchtlinge sollten also wenigstens eine kleine Chance haben, Schutz in der EU zu finden. In Tampere wurde sozusagen das Europamodell einer Festung mit einigen Zugbrücken kreiert. Diese Zugbrücken existieren bis heute nur auf dem Papier. Stattdessen gibt es vorgeschobene Auffanglinien in Nordafrika. Die Nordafrikaner sollen sich um die Flüchtlinge kümmern. Wie? Da wird man dann nicht mehr so genau hinsehen. Ziel ist, das Institut des Asyls soll ausgelagert werden. Asyl in Europa wird zu einer Fata Morgana werden. Schön, aber unerreichbar. Schutz gibt es dann nicht mehr in der EU, sondern allenfalls weit weg von der Kontrolle durch Justiz und Öffentlichkeit. Und wenn der Schutz dann kein Schutz ist, sondern Auslieferung an das Land, aus dem der Flüchtling gekommen ist, dann kräht kein Hahn danach.
Aus den alten Koalitionsländern werden nun also neue, sie werden eingespannt zur Flüchtlingsentsorgung. Entsorgung ist teuer, das ist aus dem Umweltschutz bekannt. Dementsprechend wird den einschlägigen Ländern finanzielle und sonstige Hilfe angeboten. Die Europäer finanzieren, die anderen parieren. Staaten, die den Europäern auf diese Weise helfen, sich den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu entziehen, erhalten dafür das Testat, dass sie sich nun auf dem Weg guter, demokratischer und rechtsstaatlicher Entwicklung befänden. Leistung soll sich wieder lohnen, sagen Politiker oft. Wenn das so ist, müsste man eigentlich den wenigen Flüchtlingen, die es noch nach Deutschland schaffen, schnell Asyl gewähren. Es ist eine große Leistung, nach Deutschland zu fliehen, weil das eigentlich gar nicht mehr geht, weil davon und davor eine Vielzahl größter Hindernisse steht. Visa-Sperren, scharfe Grenzkontrollen, strenge gesetzliche Abweisungsmechanismen. Wer es trotzdem schafft, hat seine gesetzlich angeordnete Illegalisierung faktisch durchbrochen und eine Belohnung verdient, seine Legalisierung.
Am 11. September 2001 hat die Welt Afrika aus dem Blick verloren. Ein ganzer Kontinent vegetiert seitdem abseits aller politischen und militärischen Interessen. Die junge Entwicklungshilfe besteht neuerdings darin, in Afrika Lager einzurichten. Es ist sicherlich richtig, dass bei Konflikten von kürzerer Dauer heimatnahe Lager sinnvoll sind. Die EU-Politik aber verfolgt eine andere Linie, die heißt: aus den Augen – aus dem Sinn. So kann man sich der Illusion hingeben, das Weltarmutsproblem mit administrativen und abschreckenden Maßnahmen im Griff zu behalten. Wohlstand bleibt drin, Elend draußen. Indes wird eine Mauer aus Paragrafen und Lagern so wenig halten wie alle anderen Mauern der Geschichte gehalten haben. Sie fördert nur den Irrglauben, Reichtum nicht teilen zu müssen. 60 Jahre nach Verabschiedung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist der Prozess der Normgebung auf dem Gebiet der Menschenrechte weitgehend abgeschlossen. Jetzt geht es nicht mehr um neue Konventionen und um neue Pakte mit neuen Garantien. Jetzt geht es darum, die Menschenrechte durchzusetzen und darum, ihre Botschafter, die Flüchtlinge, menschenwürdig zu behandeln.