Utopien sind Wunschvorstellungen, sie haben, wie der Name Topos schon sagt, einen Ort, an dem gesellschaftliche Wunschträume realisiert werden: die Insel einer besseren Gesellschaft, ein Leben ohne Krieg, in Einklang mit der Natur etc. Wir wissen alle, dass Utopien nie Realität werden, aber gerade deshalb spielen sie eine so große Rolle, denn ihre Aufgabe ist es, die Hoffnung am Leben zu halten und die Hoffnung auf Leben am Leben zu halten. Rudolf Maresch und Florian Rötzer stellen die These auf, dass moderne Utopien maßgeblich von neuen Technologien und ihren Auswirkungen auf die soziale Lebenswelt der Menschen angetrieben werden.
Früher war Zukunft eine Frage des Schicksals. Man befragte dazu das Orakel, die Eingeweide von Vögeln oder die für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Priester. Erst mit den Philosophen, die den Menschen ins Zentrum rückten, entstand ein Verständnis von gestaltbarer Zukunft. Zukunft wurde multi-optional, offen für menschliches Handeln, also gestaltbar. Der Mensch handelt aufgrund von bewussten oder instinktiven Zukunftsprognosen. Unser Hirn, in Millionen von Jahren von der Natur zum Überleben designt, befindet sich in einem ständigen Prognoseprozess. Wir sind ohne Zweifel Erwartungs-wesen, der Zukunft zugewandt. In der Antike gab es das Orakel von Delphi. Wir meinen immer, dort saßen irgendwelche Wahrsager oder Gottheiten herum. Tatsächlich war es eine antike Denkfabrik, denn was das Orakel von Delphi auszeichnete, war das schnellste Informantennetzwerk in den Stadtstaaten Griechenlands. Das ganze Tohuwabohu, die Dämpfe usw., das war der Zeit geschuldet.
Heute erleben wir dieses Tohuwabohu auf großen Pressekonferenzen, wenn die Fünf Wirtschaftsweisen ihre Prognosen mitteilen. »Erkenne dich selbst« stand nicht umsonst über den Pforten zum Orakel. Im Mittelalter dominierte die Kirche das Denken über Zukunft. Und Zukunft bedeutete entweder Fegefeuer oder Himmel – je nach Lebenswandel. Wenn man in die Geschichte der Zukunft hineinblickt, sieht man, dass schon sehr früh mit Visionen und vor allem mit technologischen Utopien gearbeitet wurde.
Das Zeitalter der ersten wirklichen Visionen war die Renaissance. Im Begriff der Vision versteckt sich allzu deutlich das Visualprimat dieses Zeitalters. Leonardo da Vinci entwirft Zukunft als etwas Humanes. Nostradamus erfindet die verschlüsselte Zukunftsbotschaft und schreibt seine Zenturien. Thomas Morus schreibt Utopia und damit den Vorläufer der Romanutopie. So geht es weiter bis zur Aufklärung. Es folgt das Zeitalter der Erwartungen, allen voran Charles Darwin mit der Evolutionstheorie, der ein wenig Nüchternheit in die Zukunftsbetrachtung hineinbringt und das Säkulare in den Zukunftsblick hineinschreibt. Jules Vernes Themen waren der technologische Fortschritt, Abenteuer und Weltentdeckung. Er war der Erfinder des Sience-Fiction-Romanes, wenn Sie so möchten.
Danach brach eine Zeit an, in der die großen Katastrophen auf den Weg kamen: das Dritte Reich, die Atombombe etc. Mit Aldus Huxleys Brave New World wird so folgerichtig auch ein dystopischer Roman vorgelegt, also das Gegenteil einer Utopie. George Orwell schreibt 1948 1984. Und die Wirtschaftstheoretiker entdecken technologisch-ökonomische Zyklen, ganz wichtig für die heutige Zukunftsforschung. Wenn wir das so fort schreiben, finden wir noch weitere Namen. Hermann Kahn zum Beispiel oder Alwin Toffler, der das Buch Future Shock schreibt. Das sind die Anfänge der Zukunftsforschung, wie wir sie heute begreifen.
Heute kann man fünf Hauptstränge der Zukunftsforschung unterscheiden. Der erste Strang, initiiert vom Club of Rome, ist das Doomsaying, die Annahme, dass alles schlimmer wird: Welternährung, Bevölkerungsexplosion. Heute wissen wir, dass das, was der Club of Rome gesagt hat, nicht eingetroffen ist. Aber die Doomsayer können immer sagen, wenn wir nicht gewesen wären, säßen wir jetzt im Schlamassel, denn ihr habt ja auf unsere Prognosen reagiert und habt Zukunft gestaltet. Dann gibt es einen technologiegetriebenen Pfad mit Marshall McLuhan, Raymond Kurzweil oder Nicolas Negroponte. Im weitesten Forscher und Theoretiker, die meinen, die Technologie ist der entscheidende Treiber gesellschaftlicher Entwicklung. Ein weiterer wichtiger, abzweigender Strang ist das Trendmarketing, geprägt von Faith Popcorn. Sie hat einen schönen Begriff geprägt, das ›Cocooning‹, also den Rückzug ins Häusliche. Faith Popcorn ist heute noch eine Ikone des Trendmarketings. Der vierte von John Naisbitt geprägte Strang der modernen Zukunftsforschung ist der ökonomische, mana-gementgetriebene Ansatz. John Naisbitt arbeitete für die amerikanische Regierung in den 80er Jahren, er hat das Buch Megatrends 2000 geschrieben und heute noch spielen in der Methodik der Zukunftsforschung Megatrends eine große Rolle. Der fünfte Strang schließlich ist das ›Corporate Foresight‹. Hier entdecken Unternehmen, dass sie Inhouse ihre Zukunftsforschungsabteilung aufbauen müssen, um mit den Methoden der Zukunfts- und Trendforschung auf die volatilen Märkte von heute zu reagieren.
Momentan ist ein relativ neuer Trend sichtbar, den ich mit ›Crowdsourcing the Future‹ bezeichnen möchte. Crowdsourcing ist nichts anderes als das, was uns das schöne neue Web 2.0 beschert hat, dass wir das Informationszeitalter kontrollieren, es unsere Welt ist, die wir immer mehr gestalten. Denken Sie an die vielen Netzwerke, die es mittlerweile gibt. Immer mehr Menschen sind in einem sozialen Netzwerk organisiert. Das zeigt, dass zumindest auf der kommunikativen Ebene einiges anders läuft als noch vor ein paar Jahren und dass Technologie ein Socialising-Tool geworden ist.
Auch die Zukunftsforschung hat das Potenzial der sog. Sozial-Medien entdeckt. Unsere Kollegen aus Amerika, aus dem Institute for the Future, haben beispielsweise ein Spiel namens Superstruct ins Leben gerufen. Das macht den User zum Zukunftsforscher. Man musste sich in diesem Spiel mit Problemen, die in Zukunft auf uns zukommen, auseinandersetzen. Und das in Gruppen, die vorher nie so zusammengesessen und noch nie gemeinsam an einer Idee gefeilt haben. Das ist der Kerngedanke dieses Spiels, das sich in den sozialen Netzwerken, in Weblogs usw. abspielt. Hier wird das Visionieren zum informationellen Dauerunfall der Wissensgesellschaft. Die Designerin des Spieles hatte d as sehr gut eingefädelt. Sie hat die Menschen involviert, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern sie gab nur eine grobe Spielanleitung vor, um die Welt vor dem Untergang im Jahre 2040 zu retten. Je mehr Leute dieses Spiel gespielt haben, desto ferner lag das Verfallsdatum der Welt. Mittlerweile ist man ungefähr bei 2080 angelangt.
Das nur als kleiner Aspekt, wie Crowdsourcing heute im Bereich der Zukunftsforschung aussieht. Wir merken, dass sich einiges in unseren kommunikativen Landschaften ändert, insbesondere im Hinblick auf Ideen und Visionen. Es geht immer mehr darum, dass eine Masse von Menschen Dinge kreiert, sie umgestaltet, sie perfektioniert. Denken Sie auch an Wikipedia, das ist ja nichts anderes als Massenkollaboration. Und letztendlich auch Innocentive, wo Leute ihr Problem schildern und dann einer sehr großen Gruppe von Menschen als Aufgabe stellen. So wird das Internet heute als Problemlösungsinstanz begriffen.
»Der große Erfolg des Internets liegt nicht im Technischen, sondern im Menschlichen begründet«, sagte einst David Clark vom MIT. Hubert Burda sagte sogar angesichts dieser neuen Webentwicklung: »Ich glaube, dass der Umbruch von heute so groß ist wie der damals, als Gutenberg die Movable Letters erfunden hat.«
Auf die Frage »Was würdest Du mit 15 Minuten Freizeit anstellen?« lautete die häufigste Antwort in einer US-amerikanischen Befragung unter 14- bis 29-Jährigen »Social Networks besuchen«. Das Medienverhalten hat sich rapide geändert. Wir reden heute nicht mehr von den neuen Medien, sondern von sozialen Medien, wo wir uns organisieren, wo wir Probleme lösen, etc. Keine Vision ohne Medien, so könnte man es auf den Punkt bringen.
In einer Studie zur Zukunft des Internets, die das Zukunftsinstitut schon im Jahre 2000 veröffentlicht hat, gingen wir davon aus, dass wir uns bis ins Jahr 2005 in einer Wild-Gadget-Phase befinden werden, wo wir sehr viele Geräte nutzen, uns in der technischen Organisation verzetteln und vor dem Kabelsalat kapitulieren. Heute sind wir auf den Datenhighways angelangt, die Bildübertragung, auch Video im Internet funktioniert bestens, Communities als Organisationsmedium funktionieren immer besser. Jetzt kommt eine Phase auf uns zu, die wir ab 2010 so richtig am Boomen sehen, nämlich das Netzagententum. Denken Sie daran, Ihr Festplattenabsturz muss kompensiert, Ihre Passwörter organisiert werden – und künftig wohl auch die Abwesenheit vom Netz. Ich persönlich habe mittlerweile eigene Multiidentitäten in meinem eigenen Adressbuch gespeichert – verschiedene Passwörter und Nutzernamen von Diensten und Plattformen, die ich selber nutze. Das nimmt uns in Zukunft ein Dienstleister ab, auch das Reisebüro wird vielleicht in Zukunft mehr denn je unsere digitale Identität verwalten, wenn wir zum Beispiel im Urlaub keine E-Mails beantworten möchten oder die geklonte Stimme von Reinhold Messner direkt im iPod haben möchten, während wir den Watzmann besteigen.
2015 aber wird es eine Rückkehr der Realität geben. Denn die wichtigen Fragen dieser Zeit werden dann doch gestellt werden müssen. Die stellen wir heute noch nicht ausreichend genug, weil die Technik noch zu sehr im Vordergrund steht.
Die Frage, wie kaufen wir künftig ein Buch, wer empfiehlt es uns, wer ist Autor dieses Buches, was bedeutet Autorenschaft generell im 21. Jahrhundert. Das sind die wirklichen Fragen. Darauf kann uns auch das Internet keine Antwort geben.