Unordnung und Fülle
»Nous sommes le lieu et le non-objet d’une gravitation de signes insensés. Des forces que nous ignorons, se heurtent, se composent, écroulant les vestiges, pans de murs, troncs foudroyés, lettres mortes – et font monter le fond.« Jacques Dupin
[ … ] Astrid Korntheuer komponiert ihre Bilder ausgehend von gänzlich unerwarteten Ressourcen und gibt ihnen eine Form, die nicht von der Energie zu trennen ist, mit der sie generiert und von der sie aktiviert wurden. Diese Kunst drängt sich wie ein Bündnis aus Unordnung und Fülle auf. Die Prozesse, die die fotografische Darstellung steuern, sind überaus aufschlussreich: Aufsplitterung und Annäherung, Zerstreuung und Konzentration, Verfall und Wiederaufblühen. Die ausgeklügelten Arrangements bilden Gleichgewichte, die die zusammenlaufenden und auseinander strebenden Besonderheiten von Oberflächen, Texturen und Rastern steuern. Das Mischungsverhältnis kann so Materialien und widersprüchliche Zeichen in ein zusammenhängendes Ganzes umwandeln. Es bringt Eindrücke hervor, die sich im Echo auf materielle und pikturale, abstrakte und figurative, imaginäre und reale, dekorative und strukturelle Referenzen verknoten und wieder auflösen. Die Natures Mortes erscheinen so als Konglomerat aus Farben, Objekten und Strukturen, aus einer Überfuülle an Ballons, Röhren, Papierschnipseln, Pappen, Stoffen und Plastik, aus einer Vielfalt an Girlanden und Schnörkeln, aus Verflechtungen und Anhäufungen, Kehrtwendungen und Verkettungen. Die Elemente, die an diesem Durcheinander teilnehmen, sind verderblich und verbergen nicht ihren trümmmerhaften Ramschzustand. Doch ausgehend von diesem Chaos und unter Benutzung dieser Fragmente als Baumaterial bringt der Akt der Inszenierung ein organisiertes und beständiges Bild hervor. Astrid Korntheuer erschafft diese verbindende Logik mit Hilfe eines Kompositionsmusters aus Symmetrien und Vexierspielen, aus Brüchen und Gelenkpunkten sowie aus der Übersättigung des Raumes durch eine materiologische Steigerung, einem gezielten Gebrauch von Licht und einer merkwürdigen Ausnutzung von Techniken der Malerei. Diese Vorgehensweise erweist sich als streng, organisch und musikalisch und bezieht Umgebungsräume, Rhythmen und die Möglichkeit, gegenseitige Grenzen auszuloten, in das Spiel mit ein. Ihr Ziel liegt in der Montage von losgelösten, zerschnittenen Teilen, die nichts auf den ersten Blick dafür bestimmt, zusammen zu funktionieren.
Ist dies im Grunde eine Misch-Fotografie? Alles hängt davon ab, was man darunter versteht. Aber ja, mit „gemischt“ möchte man das Anliegen ausdrücken, Dinge zu vermengen, zu wiederholen und auf ihren Antagonismus zu wetten, um sodann Sachlagen, Stadien von Koexistenz zu erschaffen. Astrid Korntheuer mobilisiert und konfrontiert Wesen und Wirkungen von Gewächs und Gestein, von Industrie und Poesie, von Gewöhnlichem und Künstlichem, von Verwahrlosung und Recycling. Sie setzt einen Regenerationsprozess in Gang, der die Lücken des Realen ausgleicht und den Vorratsschatz des Imaginären öffnet.
[ … ] Das Bild des Chaos erlangt die Spannkraft eines Übergangs. Ohne sich nun blind auf die reine Funktion dekorativer Gestaltung zu beschränken, baut sie eine signifikante Verbindung zwischen dem Wunsch nach der Rückkehr zum Urzustand, zum Ereignis des Überquellens, des Exzesses und der Fülle auf. Diese ermöglicht dem Raum und seiner Metamorphose zugleich verschwenderischen Überfluss und Durchlüftung.
Die Welt von Astrid Korntheuer ist eine Welt, die Fragen nach dem Aussagewert ihrer Darstellungsformen stellt. Auf diese Ursprungsfrage antwortet sie mit einer Mischform, die zugleich einem Desaster und einem Wunderwerk ähnelt. In ihrer Komplexität ersetzt sie Schlichtheit durch vielfache Windungen, ohne darin die Orientierung zu verlieren. Sie trifft [ … ] Entscheidungen, indem sie sich auf die von Kunst und Kultur geerbten Kategorien stützt und diese an den Gelüsten und Basteleien unterschiedlichster Ausgangslagen reibt. Solch eine Disposition verrät eine Art von Harmlosigkeit, die selbstverständlich nicht als die Äußerung einer ungefährlichen und fugenlosen Positionierung zu verstehen ist, sondern als die Fähigkeit zu einer Arbeit in frohlockender Regression, die es erlaubt der üblichen Beschränktheit Rituale und Praktiken sowie die lebhafte und unvorhersehbare Geste der Kreation zu entreißen.
(Didier Arnaudet 2010, Text leicht gekürzt)