Symposium 2012
Bildspuren – Unruhige Gegenwarten

Dr. Tilman Allert

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Dr. Tilman Allert

Bildspuren – Unruhige Gegenwarten

Ich spreche hier für die Soziologie und das bedeutet, ich habe überhaupt keine Kompetenz über die ästhetische Qualität von Fotografien zu sprechen. Ob meine Disziplin nun irgendwie eine Zuständigkeit hat, über das Unruhepotenzial der Gegenwart zu urteilen, das lässt sich natürlich auch fragen. Zumindest dann, wenn man den Oppositionsbegriff Ruhe bedenkt und die berühmte Luhmannsche Frage stellt: Wer ist hier eigentlich der Beobachter? Ich begnüge mich, nicht zuletzt aus Respekt vor dem hier in Darmstadt zu feiernden Medium, mit einigen gedanklichen Anregungen, die aus einer Perspektive des Erzählens stammen. Zunächst also etwas zur Konkurrenz, zum Sprechen also und zur Gestaltungskraft der Sprache. Und dann sei der Frage nach Unruheerscheinungen der Gegenwart nachgegangen und schließlich möchte ich eine Bemerkung zur Konfliktivität und Komplementarität von Wort und Bild hinzufügen.

Wenn wir die Polarität Ruhe und Unruhe in unserer Argumentation einführen, dann zeigt sich sofort, dass Sprache überhaupt nur einem vergleichenden Bewusstsein gegeben ist. Sie ist gedächtnisabhängig und entsteht somit in einer Zeitstruktur, in der eine Gegenwärtigkeit über eine Vergangenheit perspektiviert und auf eine Zukünftigkeit hin entworfen wird. Das markiert ja möglicherweise den zentralen medialen Unterschied zwischen dem Sprechen und dem Zeigen, dem Wort und dem Bild, dass wir es zu tun haben mit unterschiedlichen Formen des Zeitbezuges. Menschen, also auch Menschen der Moderne, sind Geschichtenspeicher. Geschichten eröffnen die Möglichkeit, sich in Zeit und Raum zu verorten. Es ist die Anstrengung des Sprechens, über die sich in der Regel die Frage beantworten lässt, wer wir sind. Wie unruhig auch immer die Lebenssituation und das ihnen gegebene Zeitgefüge sind, ob es also Kriege oder Krawalle sind, die wir erlebt haben oder erleben, ein Autounfall, die Erkrankung der Nächsten, das triviale Glück einer guten Note nach erbrachter Leistung, stets erscheinen derartige Erfahrungen übersetzt in die narrative Struktur einer Geschichte. Das Medium dieser Geschichten ist die Sprache, wenngleich die suggestive Evidenz eines pausenlosen Fotografierens mit dem irgendwie ja beruhigenderweise paradoxen Ergebnis einer Verbannung auf die Festplatte, früher Album, in dieser These von der Bedeutung des Sprechens das Wasser abzugraben scheint. Die Sprache, nicht das Bild, ist das Haus des Seins in einer berühmten Formulierung des Philosophen Martin Heidegger. Die Gegenwartserschließung ja überhaupt die Konstitution von Erfahrung vollzieht sich im Modus des Sprechens. Das Verstummen erscheint auf dieser Folie als die Unruhe schlechthin.

Es gibt drei Formeln sich und andere in der gesprochenen Welt zu erleben und mit Adressen, also mit Ansprechbarkeit, zu versorgen. Es gibt die versteckte Geschichte, das dürfte der Normalfall sein. Menschen reproduzieren in der Art und Weise ihres Erzählens Erfahrungen von Gegenwärtigkeit Spuren des Erlebten, die ihnen Unverwechselbarkeit verleihen, oft ohne es selbst zu merken. In der Prägnanz des Erzählten erscheint die Sequenzialität von Erfahrungen wie eine zweite Haut der Person. Mehr oder weniger deutlich hält der Erzählende die Chose unter Kontrolle. Schließlich geht es bei den meisten dieser Geschichten um den Aufbau eines Sockels, auf dem der Erzähler zu stehen kommt. Eine alle anderen überragende Grandiosität der gelungenen Lebens- und Krisenbewältigung zählen zum Bauprinzip der Geschichte als Heldengeschichte. Wenn täglich 7 min. vor 12 Käpt’n Blaubär seine Erzählstunde hat, dann lässt sich eine zweite Form des Geschichtenerzählens verfolgen. Sie gehört in gewisser Weise ans Meer, lebt von der Nähe zum Abenteuer als einem ganz wichtigen Element.

Unser Thema, die wechselseitige Bezogenheit von Sprechen und Zeigen, schimmert aber schon durch, wenn wir mit dem Seemannsgarn, das gesponnen wird, auf eine weitere Form des Erzählens stoßen. An ihm können wir nämlich etwas enorm Wichtiges festhalten, das in meinem Plädoyer für das Erzählen, also den Verzicht auf die Kamera gleichsam, leicht übersehen werden kann. Geschichten sind devianzanfällig und die häufigste Devianz, die beim Geschichtenerzählen unterläuft, ist das Seemannsgarn. Geschichten sind nämlich der Falsifikation entzogen. Niemand kann überprüfen, wie groß der Dorsch wirklich war, den der Angler der stürmischen See abgerungen hat. Sprechen ist also täuschungs- und selbsttäuschungsanfällig. Geschichten sind konsistenzverpflichtet und brauchen eine Instanz der Konsistenzbefürwortung. Deshalb bilden Käpt’n Blaubär und seine ebenso wohlwollend wie erkenntniskritisch aufmerksam zuhörenden drei Enkel im Grunde das Modell für Voraussetzungen und Folgen von Geschichten, also das Modell für die Ergänzungsbedürftigkeit des Geschichtenerzählens.

Gehen wir auf eine dritte Textgestalt von Geschichten ein, die Abkürzung, das Stichwort. Von Bildern ist auch in dieser Form nicht die Rede, eigentlich nur davon, dass es in unserem Erzählen auf ein fundamental wichtiges Verhältnis von Text und Kontext ankommt, vom Erzählten und dessen Rahmung, um es in der Begrifflichkeit des amerikanischen Soziologen Erving Goffman zu formulieren. Rahmung erzeugen wir sprechend, Bilder helfen nicht oder sagen wir es bescheidener, das wahrgenommene ist niemals spurlos verschwunden, aber selbst wenn es im Bild objektiviert wird, erscheint seine evidenzsichernde Kraft nur denjenigen, die es in den Rahmen des Sprechens stellen. Die Bildspur impliziert die Wortspur. Und dennoch, so scheint es, und damit wird die Sache komplex und faszinierend, läuft das Sprechen auf die Suche nach Bildern hinaus. Gibt es also einen besonders zugespitzten Handlungs- oder Darstellungsbedarf des Fotografierens? Und auch dazu einen, der angesichts des Lebenszustandes der Moderne irgendwie besonders dringlich geworden ist? Die Zweifelsbeseitigung schlechthin, die Evidenzsicherung, die einen in ihrer erdrückenden Suggestivität zum Schweigen bringen kann? Möglicherweise reproduziert sich angesichts der zunehmenden Verbildlichung unserer Erfahrungen die hier angesprochene Logik eines nie endenden Streits, um die Dominanz des Erzählens gegenüber der abkürzenden suggestiven Kraft des Zeigens. Es ist ein Streit zwischen verschnörkelter Narration und ungeschminkt vorgehaltener großformatig, kleinformatig verbürgter Evidenz, also der Streit zwischen Seemannsgarn und Reportage.

Unruhige Gegenwart, gibt es dafür irgendwie eine unruhige Evidenz? Das zu beantworten, ist natürlich eine Frage der Perspektive. Nehmen wir die großen und kleinen Unruheherde des Menschen, der Krieg, die Überschwemmung, das Erdbeben, der Krebs, die Beeinträchtigung der Lebensführung durch Not und Gewalt, so können wir von einer gestiegenen Unruhe eigentlich gar nicht sprechen. Vielleicht hat sich die Art des Vergegenwärtigens verschoben, also die Verhältnismäßigkeit von Sprechen und Zeigen und damit wären wir bei Bildern, die unsere Zeiterfahrung seit der Erfindung der Fotografie begleiten. Nicht radikal neu, denn ein Blick in die ikonografische Fülle einer mit Bildtexten ausgemalten mittelalterlichen Kirche kann es uns sofort bestätigen, aber doch in der Suggestivität gesteigert. Einiges spricht für den Gedanken, dass sich die Gegenwartsgesellschaft von einer perspektivischen Verortung der eigenen Identität durch Geschichten zunehmend distanziert und sie substituiert durch das Bild mit seiner überfallartigen Evidenz.

Die Fotografie ist das Medium der zeit- und raumbedingten Evidenzsicherung. In dem Maß, in dem sie in dieser Funktion in Anspruch genommen wird, entwickelt sie erstens eigene Gütekriterien der Dokumentations- und Archivierungsgenauigkeit und zweitens, sie erlebt an sich als ein technisches Verfahren der Evidenzsicherung und der Zweifelsbeseitigung eine eigengesetzliche Entfaltung, an deren Ende die bis heute nicht abgeschlossene und hier wunderbar zum Ausdruck gebrachte ästhetische Verfeinerung rückt. Dabei entsteht ein hochinteressanter Schulterschluss mit der Logik des Erzählens. Die eigengesetzliche ästhetische Sphäre der Fotografie erschließt sich nämlich ganz ähnlich. Sie wird zum Ausdruck gebracht von Exponaten, in denen es gelingt, im Bild eine Kontextschichtung, eine Multiplizität von Rangung unterzubringen. Die ästhetische Raffinesse liegt dann in dem Bereitstellen von überraschenden Lesarten, in einer in das Bild eingefügten komplexen Narrativität. Nehmen wir ganz trivial das gegenwärtig an den S-Bahn-Haltestellen der Region den Wartenden entgegenspringende Bild einer Gruppe von Safaritouristen, die auf dem Dach eines Jeeps stehen und angestrengt, einige mit Ferngläsern, in eine Richtung schauen, offenkundig mit dem Zielsetzung der Tierbeobachtung. Hinter ihnen von ihnen unbemerkt in unmittelbarer Nähe liegt in stoischer Ruhe, den Blick auf die Menschen auf diesem Autodach gerichtet, ein stattlicher Löwe. Dieses Foto trägt die Unterschrift: Essen auf Rädern. Für meine Argumentation ist darin die Bildunterschrift bemerkenswert. Ein Text erläutert das bildliche Arrangement. Das ist nicht zwingend und in der vollkommen ästhetisierten Fotografie wird auf eine Explikation weitgehend verzichtet. Das Bild, darin läge dann seine fotografisch-ästhetische Raffinesse, unterlegt sich selbst mit einer Vielfalt von Erzählströmen, freilich verpackt in den nur sinnlich anschaulichen Appell, der an das betrachtende Auge gerichtet ist.

Bild und Wort erscheinen nicht in einer scharfen Gegensätzlichkeit, sondern in einer dynamischen Komplementarität und Konfliktivität. Sie bestreiten sich wechselseitig die Überzeugungskraft, wie auch ihr Unruhepotenzial und bilden dabei doch nichts anderes als ungleiche Zwillinge der Realitätserschließung. Die Arena, in der dieser ewige Streit ausgefochten wird, ist vornehmlich der Journalismus. Ob der Kniefall Willy Brandts, der missionarische Gestus eines Obama, die brennend startende Concorde, stets zeigt sich, dass in diesem besonderes Kompetenzprofil des Journalismus das Gestalten des Spannungsverhältnisses zwischen fotografischem Evidenzappell und erzählter Plausibilität zu einem Kriterium des Gelingens wird.