Menschen reisen, verändern sich und wurzeln an verschiedenen Orten zugleich, wodurch mehrere Heimatorte entstehen und sich alte und neue Strukturen vermischen. Ein komplexes, interkulturelles und internationales Selbstverständnis entsteht, welches den Begriffen der »Identität« und der »Heimat« eine neue Bedeutung verleiht. Viele meiner Arbeiten beschäftigen sich mit Fragen nach einer kulturellen Identität in der heutigen unruhigen Zeit. Fotografie wird zur Aufzeichnung verschiedener Lebensabschnitte, wird Rohstoff für die Konstruktion oder Dekonstruktion eines Bildes. Ich selbst bin ich Brasilien geboren, habe ich Frankreich studiert und wohne nun schon viele Jahre in Deutschland. Und so weist die Beschäftigung mit dieser Thematik auch autobiografische Züge auf. Einige meiner Projekte zum Thema möchte ich Ihnen heute vorstellen.
In der Serie Transit von 1999 untersuchte ich die Bedeutung des Reisepasses eines Menschen. In meinem Leben hatte dieses Dokument stets eine enorme Bedeutung. Denn nur mit dem Reisepass war es mir möglich von Land zu Land zu reisen und meine verschiedenen Heimatorte aufzusuchen. Ich möchte zunächst aus einem Text über diese Arbeit von dem französischen Autor Patrice Cotensin zitieren, der den Kern der Serie sehr schön erfasst: »Transit: Legitimierende Papiere sind seltsame Dokumente, man hat einzig und allein die Pflicht und das Recht, seine Unterschrift hineinzusetzen, manchmal auch seine Fingerabdrücke, sonst aber nichts, wenn sie nicht ungültig werden sollen. Diese kostbaren Papiere von tausenden Menschen, wie Zauberformeln begehrt, die ja ein Minimum an Sicherheit und Wohlbefinden garantieren sollen – Luzia Simons trägt sie zusammen, vermischt und zerschneidet sie, bringt sie durcheinander, montiert, schichtet und ›merzt‹ sie. Dass dies verboten ist, wird dabei ebenso offen kundgetan wie missachtet. Genau in diese Papiere, dort also wo die Behörde Fotografien in brutal üblichem Frontalstil einsiegelt und auch vernietet, klebt Luzia Simons Bildfragmente hinein, ganz frei in den Themen und Formaten, Bruchstücke von der, die sie ist, und die sie eine nach der anderen wurde, oder auch nur von dessen Widerhall. Unser Leben ist das eins? Sind das mehrere? Unsere Zeit, ist das eine? Sind das mehrere? Aus wie vielen Leben besteht ein Leben? Versuchen wir das Leben eines Menschen, Portraits von ihm aus verschiedenen Zeiträumen zu erfassen (…), ist es dieselbe Person, zerlegt in mehrere Zeiten oder ist es die Zeit, zerlegt in mehrere Personen? Zusammengesetzte Streifenmuster und Raster Gaufragen und Perforationen, wiederholte Motive mit winzigen Veränderungen, alles was die Fälschungssicherheit des offiziellen Dokumentes gewährleisten soll, ist unmäßig vergrößert, verschachtelt, gegenübergestellt, piastisch verschränkt nach der Logik, der dynamischen Geschmeidigkeit und der Rechteckigkeit eines lusitanisch gebauten Bauhauses.«
Mir war aufgefallen, dass der Pass eigentlich gar kein Identitätspapier ist, denn wir selbst dürfen ihn nicht verändern, nicht darin schreiben und es somit nicht individualisieren. Es ist nur ein Pass. Ich habe diese feste Ordnung aufgebrochen und das Dokument an mein Leben angepasst. Die Arbeit besteht aus 32 Collagen, die ich eingeheftet in Leitz-Ordnern präsentiert habe und die mit dem offiziellen Papier des französischen und brasilianischen Passes gefertigt wurden. Für die Collagen habe ich verschiedene Fotos aus meinem Leben verwendet und die Ornamentik eines Reisepasses übernommen. Linien und Zeichen wurden neu geordnet und mit Fotografien und Textelementen vermischt. Bruchstücke aus Hochzeitsfotos und Symbole der Städte, in denen wir lebten, verschmelzen mit den typischen Mustern und Strukturen des Passes. Für Brasilien steht in der Collage beispielsweise der Kaffee und die Sterne symbolisieren die vielen Regionen Brasiliens. Zudem wurde die Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland eingearbeitet. Auf diese Weise habe ich meinen Reisepass neu gestaltet und die Komplexität seiner Bedeutung verdeutlicht.
Während der Arbeit an der Serie Transit kam mir die Idee zu einem weiteren Projekt, das ich schließlich 2002 in Stuttgart mit dem Südwestrundfunk unter dem Titel Face Migration – Sichtvermerke realisierte. Es umfasste 100 Portraits von Einwanderern in den Räumen des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart, die ich in einer Installation mit großen transparenten Diapositiven im Glastrakt zwischen den beiden Teilen des Kunstvereins anbrachte. Tagsüber waren nur weiße Flächen zu sehen. Doch abends, wenn die Lichter angingen, erleuchtete die transparente Fassade mit den Bildern. Diese gläserne Passage wurde dann symbolisch ein Ort des Übergangs für uns Ausländer, in dem wir uns dafür entschieden in einem anderen Land zu leben. Die Passage als Pass, als Engpass sogar, mit einer lichtdurchlässigen Ausstellungsfläche, die für einen Transfer steht: von innen nach außen und umgekehrt. Die Zusammenarbeit mit den vielen Migranten war sehr interessant, aber auch intensiv und erforderte viel Energie, da ich hunderte Male in ein neues Gesicht blickte und mich aufmerksam auf viele neue Geschichten und Erfahrungen einließ.
Die letzte Serie, die ich vorstellen möchte, hat den Namen Stockage. Es ist eine Serie, die auf zwei Ebenen basiert: zum einen die des Themas und zum anderen die der Technik. Begonnen hat es eigentlich mit einer Wut auf die neue Computertechnologie. Ich bemühte mich mit ihr zurechtzukommen und scheiterte immer wieder an der Bedienung. Meine Anstrengungen sollten sich wenigstens lohnen und so entschied ich die Technik stärker zu nutzen und auch auf meine künstlerische Arbeit auszuweiten. Ich legte von nun an alles auf den Scanner, was mir unbekannt war und ich erst in Deutschland kennengelernt hatte. Das waren z.B. Maultaschen, Wurst oder Kohlrabi und schließlich auch Tulpen. Es ist eigentlich sehr gefährlich heutzutage in der Kunst etwas mit Blumen zu machen. Zu schnell kann die Arbeit in den Kitsch abdriften. Mich beschäftigte daher die Frage, wie man aktuell Blumen fotografieren könnte. Fünf Jahre lang versuchte ich dem Thema beizukommen. Erst als ich schließlich in Istanbul war und erfuhr, dass Tulpen nicht aus Amsterdam, sondern eigentlich aus dem Orient stammen, eröffneten sich mir neue und tiefer gehende Wege zum Thema. Für mich stellte dieser Zusammenhang eine interessante Brücke zwischen Handels- und Kulturgeschichte und Ästhetik dar und die Arbeit erreichte letztendlich eine Vielfalt an metaphorischen Verweisen. Die Tulpe war sowohl im Orient als auch im Okzident ein wichtiges Identifikationssymbol. Sie kam aus dem Iran und der Türkei nach Europa und hat sowohl in der türkischen Kultur als auch im Importland Holland eine große Bedeutung. Für mich steht sie damit für die Globalisierung und interkulturelle Identität und das global gewordene Bewusstsein von simultan existierenden unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Interessant ist dabei auch die unterschiedliche Verwendung der Blume. In der Türkei wird sie stets einzeln gezeigt. In der westlichen Welt jedoch verwenden wir sie als Strauß im Verbund mit mehreren Exemplaren. Ich wollte innerhalb meiner eigenen Bildsprache beide Kulturkreise vereinen und verwendete die türkische Blütenform der Tulpe in Arrangements aus mehreren Blüten.
Ich nutzte die Scanografie, um Bilder hervorzubringen, die von keinem sicheren Standpunkt aus gemacht zu sein scheinen. Bei einer Kamera ist der Aufnahmestandpunkt und die Perspektive erkennbar. Bei den Scans gibt es diese Eindeutigkeit nicht. Jeder Bildpunkt ist gleichwertig und präzise abgespeichert und lässt jedes Detail der Pflanze erkennen. Die Größe und Detailgenauigkeit der Blüten bis hin zu den Pollen und Fasern, ermöglicht eine ganz neue Wahrnehmung der Tulpe. Wir gelangen von der Makroebene in die Mikroebene. Für ein solches Bild legte ich die Blumen auf den Scanner ohne den Deckel zu schließen und belichtete das Bild in einem vollkommen dunklen Raum. Dabei werden auch Beschädigungen, kleine Löcher und welke Stellen der Tulpen deutlich sichtbar, was interpretatorischen Spielraum schafft. Hinter all der schönen Pracht der Blüten wird somit auch der unabwendbare Verfall sichtbar. Eine neue Aktualität weist die Arbeit auch in Zeiten der Finanzkrise auf. Der Handel mit Tulpen hat 1635 den ersten Börsenkrach verursacht. Wenn man sich keine Tulpe leisten konnte, ließ man sich im Stil der damaligen holländischen Malerei einen Strauß malen. Damit ist die Geschichte der Tulpe sehr nah an unserer eigenen ökonomischen Welt.
Im Grunde ist die Tulpe damals das Symbol für etwas gewesen, das wir heute virtuell an den Finanzmärkten handeln. Denn die Tulpe ist etwas Vergängliches, für das man damals viel Geld bezahlte und die dann schließlich verwelkte und verschwand. Auch viele meiner Bilder aus dieser Serie sind nach Holland verkauft worden und hängen nun in Häusern, die damals wahrscheinlich mit drei Tulpenzwiebeln erstanden wurden.