Xu Yong

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Xu Yong

Negatives

Was ist Wirklichkeit? Über diese Frage debattieren die Philosophen seit Jahrhunderten. Spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung war klar, dass die Wirklichkeit vor allem auf Erfahrung und deren rationaler Analyse basiert und nicht auf Dogmen, die von der Herrschaft verkündet werden. Und da Erfahrung an erster Stelle individuell ist, ist Wirklichkeit notwendig subjektiv. Trotz zahlreicher Versuche der Mächtigen, die Wirklichkeit in Form offizieller Geschichtsschreibung zu diktieren, setzen sich die persönlichen Erfahrungen der Menschen beständig durch, als eine Form des kollektiven Gedächtnisses, das zwangsläufig zum Aufkommen einer ›Wirklichkeit‹ führt, die oft wenig oder gar nichts mit der zu tun hat, die vom Staat propagiert wird.

Was geschah tatsächlich auf dem Tian’anmen-Platz am 4. Juni 1989? Die offizielle Darstellung des ›Vorfalls‹ auf Seiten der chinesischen Regierung unterscheidet sich stark von der Perspektive westlicher Journalisten. Auch die vielen verbalen, schriftlichen und fotografischen/filmischen Berichte der Augenzeugen, die an diesem schicksalhaften Tag am Tian’anmen-Platz anwesend waren, unterscheiden sich enorm, so dass es fast unmöglich ist, ein klares Bild von dem zu bekommen, was tatsächlich passiert ist, geschweige denn, warum. Xu Yong war vor Ort, im Epizentrum der turbulenten Ereignisse dieses Tages im Herzen von Peking. Bewaffnet mit seiner Kamera, machte Xu dutzende Bilder von den Anwesenden – rasche und scheinbar zufällige Schnappschüsse, anscheinend weniger im Dienste einer objektiven dokumentarischen Reportage als vielmehr, um die volatile Atmosphäre der Situation einzufangen. Die Bilder spiegeln seine eigene, individuelle Wirklichkeit und erzählen so seine eigene, persönliche Seite der Geschichte, die sich vor ihm entfaltete.

Nach mehr als 26 Jahren sind wir mit diesen Bildern konfrontiert, die unsere kollektive Erinnerung in Gang setzen und die stellvertretende Erfahrung des historischen Ereignisses färben. Tragen sie in irgendeiner Form zur Klärung dessen bei, was an diesem Tag tatsächlich geschah? Nein – aber eben das streben sie gerade nicht an. Xu Yongs Bilder waren nicht als Dokumentation beabsichtigt, sondern zeigen, wie wir mit den Konzepten Dokumentation und Wirklichkeit umgehen und wie sie in Geschichte verwandelt werden.

Allein die Existenz des Negativs bedeutet, dass (analoge) Fotografien immer einen Transformationsprozess durch laufen. Das Foto wird aufgenommen, der Film entwickelt, und schließlich wird das Bild durch das Licht aufs Papier gebracht, das durch das halbtransparente Negativ dringt. Wie das Kinderspiel Stille Post, bei dem eine einfache Aussage durch Weitergeben subtil verändert wird, kann in der vielstufigen Transformation des auf den Film gebannten Bildes der Wirklichkeit zum Bild einer auf Papier gebannten angeblichen Wirklichkeit viel passieren. In den verschiedenen Texten zu Xu Yongs Negatives ist viel von der Authentizität des Bildes die Rede, aber das ist tatsächlich zweitrangig – denn wie können wir wirklich sicher sein, dass diese Bilder nicht manipuliert wurden? Es ist eine Glaubensfrage. Und wie definiert man überhaupt Manipulation? Alle Fotos sind subjektiv in dem Sinne, dass der Fotograf bewusst nicht nur sein Sujet, sondern auch das Detail und die Perspektive auswählt. Das Foto ist also kein Bild der Wirklichkeit – selbst wenn es nicht physisch (oder digital) manipuliert wurde – sondern ein gefiltertes Bild der Wirklichkeit, gesehen und erlebt durch den sehr menschlichen Fotografen in einem bestimmten Augenblick der Zeit.

Mehr noch, durch Xus Negatives wird der Betrachter zur aktiven Partizipation aufgefordert, zur Interaktion mit den Bildern, wenn auch wieder durch einen weiteren Filter. Durch die Nutzung der digitalen Technologie der Smartphones und Tablets kann der Betrachter die Fotos von negativen in positive Bildern verwandeln. Aber bekommt man dadurch weitere Informationen? Kommt man dem historischen Ereignis dadurch näher?

Mich erinnert das an Lewis Carrolls bahnbrechenden Roman Alice hinter den Spiegeln (1871). Auch hier wird der Begriff der Wirklichkeit in Frage gestellt. Die Welt auf der anderen Seite des Spiegels steht auf den ersten Blick auf dem Kopf und ist manchmal sogar beängstigend. Aber allmählich entdeckt Alice die Logik dieses seltsamen, auf der Oberfläche unsinnigen Königreiches. Am Ende der Geschichte erwacht sie aus ihrem ›Traum‹ und erinnert sich an die Spekulation der merkwürdigen Brüder Tweedledum und Tweedledee, ob das alles in Wirklichkeit nicht ein Traum des Roten Königs sein könnte, was bedeutet, dass auch Alice selbst dann nicht mehr als eine Erfindung der Imagination des Königs wäre.

Was ist wirklich? Was können wir glauben? Sind unsere Handlungen tatsächlich unsere eigenen oder werden wir von uns unbekannten Mächten ›gesteuert‹? Durch die Umkehrung der vordergründig objektiven Welt bietet uns Xu Yong den Schlüssel zu dem Bereich hinter den Spiegeln. Was wir dann aus der Situation machen, liegt bei uns und nur bei uns …

(Gérard A. Goodrow)