Frage ich eine meiner Töchter nach ihren Wünschen, landet sie stets beim fliegen können, »ganz von alleine«. Für manche endet der Traum mit der Kindheit, andere treibt er ein Leben lang um. Janne Lehtinens Vater ist einer von denen, die sich diesen Traum mithilfe konventioneller Flugmaschinen erfüllen, er ist ein bekannter finnischer Segelflieger. Die Fluginstrumente seines Sohnes sind alles andere als erprobt und funktional, sie bestehen aus Schirmen, Luftballons, chinesischen Drachen, kleinen, mit Tüchern bespannten Stöcken, Ästen oder Harken, die seinen Leib nur zu beschweren scheinen, manchmal erinnern sie an Krücken. Auf einem Bild hangelt Lehtinen an einem Ast und trägt auf seinem Rücken Federn wie Ikarus sie für seinen zum Scheitern verurteilten Flugversuch angeklebt bekam. So hoch hinaus wie jener gerät Lehtinen jedoch nicht, zwar spannt er seine Arme bisweilen weit aus und besteigt beeindruckende Felsformationen, Hügel, kleine Bäume oder Sprungbretter in verlassenen Schwimmbädern, aber tatsächlich erhebt er sich aus eigener Kraft keinen Zentimeter.
All diese Mühen finden unbeobachtet statt, kein Zuschauer ist zugegen in der Weite der finnischen Wald- und Seenlandschaft, Träume sind ein einsames Geschäft. Und so sitzt der Künstler auf einer kleinen Leiter auf einem Feld, landing heisst das Bild – um sich herum, auf einem ungepflügten Acker, einige Einzelteile der Flugkörper – in der Haltung des Rodinschen Denkers, dem vielleicht bekanntesten Bildnis eines Menschen, dessen Körper den Akt des Denkens sichtbar macht. Auf einer Vielzahl der Bilder sehen wir Lehtinen von hinten, bei den frontalen Aufnahmen blicken wir in ein ernstes Gesicht. Auf einem fast blattlosen Baum sitzend, in dem zerrissene Flügel einer Bruchlandung hängen, erinnert Lehtinen frappierend an Charlie Brown, den ewigen Melancholiker in Charles M. Schulz' Peanuts-Cartoons, dessen Drachen sich im Herbst auch immer im Gestrüpp verfingen und der dennoch niemals aufgegeben hat.
Zauberhaft sind diese poetischen Fotografien, mit den blassen Farben der herbstlichen Felder oder einer nebligen Schneelandschaft, einem wolkenverhangenen oder bleigrauen Himmel, auf denen sich der stets mit roter Jacke gekleidete Lehtinen abzeichnet. Doch sind sie nicht ungebrochen heiter, eine gewisse Obsession und Notwendigkeit scheint aus ihnen zu sprechen, sie müssen gemacht werden. Geht es darum, sich immer wieder an den Gedanken zu gewöhnen, dass das Fliegen aus eigenem Antrieb nicht gelingen kann? Oder ist es nicht allein der Versuch, der zählt? Der tradierte Mythos, in dem sich Sohn und Vater aus Federn und Wachs Flügel bauen, ist zumeist als Warnung vor Hybris verstanden worden, wer sich zu weit vorwagt, wird bestraft, ein jegliches Risiko muss bedacht werden. Doch Ikarus ist durch den Sturz ins Meer unsterblich geworden, Ernst Jandl hat das in einem Gedicht von 1954 unübertroffen formuliert:
Ikarus flog.
Ikarus ging unter.
Ikarus ging unter
hoch über den anderen.
Janne Lehtinen fliegt nicht annähernd so hoch wie sein Vater, zugleich fliegt er auf seine Weise hoch über ihm. Die Hartnäckigkeit seiner so verschiedenen Konstruktionen, sein Beharren auf dem so offensichtlich Sinnlosen, erzählt von Träumen, die nichts Lächerliches haben, sondern lebensnotwendig sein kann. Und so ermüdend man serielles Arbeiten anderer Künstler finden mag, so gespannt bleibt man auf weitere Flugversuche Lehtinens, auf weitere Bilder der Serie Sacred Bird. Möglicherweise geschieht eines Tages doch das Wunder, und er erhebt sich, ganz von alleine.
(Kerstin Stremmel)