Für die Serie vis-a-vis ließ sich die Medienkünstlerin Marlene Morgenstern von Bekannten und Verwandten nackt fotografieren. Ein Selbstversuch, bei dem es für die Wahl-Leipzigerin gilt, Vorstellungen über sich und zur eigenen Person mit den erzielten fremdreflexiven Äußerungen zu kontrastieren. Die Blöße der Abgebildeten und die Bekanntschaft zu den Fotografen blieben die einzigen Ausgangsbedingungen und sollten die Authentizität der Aufnahmen fördern. Zusammengenommen werfen beide Faktoren die Frage auf, inwieweit sich die persönliche Bindung auf die Fotografien auswirkt, von diesen abgelesen werden kann, und welchen Einfluss die Aktaufnahmen auf die zwischenmenschliche Beziehung nehmen.
Marlene Morgenstern tritt nach ihrer konzeptionellen Vorgabe als Künstlerin zurück, wird zum Motiv und Objekt der Arbeit. Die Medialisierung des eigenen Körpers und die damit verbundene Auflösung einer traditionellen Trennung zwischen Kunstobjekt und Künstlersubjekt, wurde erstmals im Zenit der Body Art der 1970er Jahre konsequent vollzogen. Hier wird der nackte Körper aber nicht wie damals in der Öffentlichkeit vor und mit einem unmittelbaren Publikum inszeniert, oder zur Abbildung performativer Gewalt genutzt. Nacktheit allein bedeutet für die Künstlerin schon die Überwindung von Scham, ist Enthemmung und wird in einer privaten Situation zum katalytischen Moment zwischen Fotograf und Motiv.
Die Fotografen, die ihre Einladung zur Teilnahme allein der Zugehörigkeit zum persönlichen Umfeld der Künstlerin, nicht aber etwaigen fototechnischen Vorkenntnissen verdanken, sind in der Wahl von Ort, Zeit und Weise der Aufnahmen frei und treffen auch die finale Auswahl, bestimmen über ihren Einzelbeitrag zur Serie. Entgegen den Inszenierungsstrategien Cindy Shermans entzieht sich Marlene Morgenstern also selbst die Kontrolle über Art und Rahmen der Darstellung. Dementsprechend lassen sich zwischen den gezeigten Fotografien der Serie gravierende formelle Unterschiede beobachten. Stellung und Position der Porträtierten sind ebenso variabel, wie deren Standort in einer unkonkreten Natur, Wohnung, oder dem urbanen Innen- und Außenraum. Durch die Einbindung der Nackten in das Interieur der Szene, oder die Wahl eines begrenzenden Ausschnitts bleiben im Einzelfall Körperpartien verdeckt und werden andere fokussiert.
Die Verbindung der von den Fotografen verfassten Textzeilen zu den entsprechenden Aufnahmen ist bald mehr bald weniger augenscheinlich. Die Autoren reflektieren die erlebte Situation selbst, verweisen mit dem Geschriebenen auf die formalästhetische Nähe der Fotografie zu einem bekannten Bildkonzept oder verbreiteten Inszenierungsmuster, entheben die Aufnahme in prosaisch fragmentarischer Form einem konkreten Kontext, oder versetzen das Foto in ein fiktiv narratives bis absurdes Umfeld.
Die verschiedenen Probanden, denen Marlene Morgenstern bisher in der Regel nur bekleidet begegnet ist, nähern sich fotografisch einer bekannten Person, werden aber gleichsam durch die Blöße mit einer bis zur Verfremdung gesteigerten Intimität konfrontiert. Die ausgewählten Bilder und begleitenden Texte nehmen sich der Porträtsituation aus individuell verschiedenen Perspektiven an. Der nackte Körper steht jeweils im Zentrum, ist wiederkehrendes Motiv und wird zur Projektionsfläche ein und derselben, aber multidimensionalen Person.
(Sönke Kniphals)