Einer der glühendsten Fürsprecher des neuen technischen Abbildverfahrens war der französische Polizeiminister Duchatel. Am 15. Juni 1839 plädierte er vor der Deputiertenkammer energisch dafür, dass der französische Staat die patentierte Technik erwerben sollte: »In der Fotografie bewahren die Objekte ihre Form mit mathematischer Exaktheit. Die mithilfe des Lichts zustande kommende Zeichnung ist zum ersten Mal in der Geschichte der Bilder ein objektives Maß, eine wissenschaftliche Größe, eine Ziffer, eine Erkennungsmarke.« (1)
Nicht von ungefähr steht die unspektakuläre Aufnahme einer Papierrolle, wie sie als neutraler Hintergrund in Fotostudios ständig Verwendung findet, am Beginn eines bemerkenswerten fotografischen Projekts von Claudio Hils. Doch die Papierrolle befindet sich im Fotostudio einer Polizeistation. Wie viele vermeintliche oder tatsächliche Delinquenten wurden vor ihr fotografisch fixiert? Das zeitgenössische »Regime der Wahrnehmung« (Jonathan Crary) von Realität und seine vielfältigen Konsequenzen sind Gegenstand der fotografischen Exploration, die vorherrschende Art öffentlicher wie privater Wahrnehmung, ja der Verschmelzung beider im Fokus einer fortgeschrittenen Medien- und Kommunikationsgesellschaft mit ihrem Überschuss häufig überflüssigen Wissens.
Claudio Hils ist der markante Vertreter einer grundlegenden ästhetischen Erneuerung der Dokumentarfotografie, die sich weder mit einem nüchternen und akkuraten Aufzeichnen bestimmter Sachverhalte begnügt noch mit ihrer vergleichenden Darstellung in Bilderreihen und Tableaus. Vielmehr bezieht er das Sehen selbst, den Blick, der auf die Dinge der Außenwelt fällt, als konstituierendes Element in die Vergegenwärtigung seiner Bildwelt ein, sodass die Wahrnehmung ein gleichermaßen beherrschendes Motiv seiner fotografischen Aufnahmen ist wie die Gegenstände, die sie veranschaulichen. Denn die Wahrnehmung verändert die Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit unweigerlich, der Blick, der sie in Augenschein nimmt, lässt sie in einem bestimmten Licht erscheinen. Er bewirkt sozusagen das Moment der Unschärferelation im gewöhnlichen Bilderverkehr.
Das Sehen, Beobachten, das Wahrnehmen, das sich in zahlreichen Kommunikationsströmen »verfranst« (Theodor W. Adorno) und dessen handgreifliche Zeugnisse, hauptsächlich Bilder und Papiere, am Ende in einer Fülle von Dossiers meist ungeordnet und in der Regel fortan unangesehen verschwinden, manchmal aber unversehens in chaotischer Form aus dem Dunkel auftauchen, um eine gewisse Sprengkraft zu entfalten, ist das eigentliche Thema des Projekts von Claudio Hils. Dabei kristallisiert sich andererseits wie bei einem Film von Bild zu Bild allmählich heraus, dass die Fotografien einem politisch, kulturell und geografisch festlegbaren Ort gelten, nämlich Belfast, der Hauptstadt Nordirlands. Deutlich betont wird das allerdings nirgendwo.
Die Realität muss sich an den Bildern erproben, nicht umgekehrt, wie die meisten glauben. So liegen Hils' fotografische Bilder auch quer zu den Bildern des alltäglichen Konsums in den Massenmedien, sparen geradezu schmerzlich aus, was die Betrachter von ihnen unterschwellig erwarten, und unterhöhlen die Konventionen der massenmedial verbreiteten Bilder. Nichts wird verständlicher durch seine Fotografien, im Gegenteil, die Fragen verstärken sich. Doch da sie keine wohlfeilen Erklärungen anbieten, gehen sie auch nicht in die Falle der Scheinerklärungen von etwas, das nicht zu erklären ist und sich offenbar der Einsicht menschlicher Vernunft verschließt. Damit wird offenbar, dass seine Aufnahmen nicht die Realität, wie sie, in den Worten eines Zeitgenossen der Entdeckung der Fotografie, des französischen Historikers Hyppolite Taine, »ist oder wie sie wäre, wenn es mich selbst nicht gäbe«, vergegenwärtigen, sondern spezifische subjektive Beziehungen zur Realität, die sich aus einem komplexen System von Sehen, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewusstwerden zusammensetzen. Infolgedessen erweitern die Bilder von Claudio Hils das Spektrum der Dokumentarfotografie um die Dimension einer ihrer selbst bewussten Wahrnehmung.
(Klaus Honnef)
(1) Zitiert nach: Günter Liehr, Menschenbilder – Bildermenschen, in: Klaus Honnef (Hrsg.), Lichtbildnisse – Das Porträt in der Fotografie, Köln 1982, Seite 541.
Archive_Belfast ist das Ergebnis eines Stipendiums der Galerie Belfast Exposed Photography.