Es ist Sommer. Die Stimmung ist gelöst, das Wetter schön. Eine junge Frau im feinen Sonntagskleid steht am Ufer des Flusses und schaut zum anderen Ufer hinüber. Was sieht sie dort? Und wer ist der Fotograf? Ist er ihr Verehrer?
An einem anderen Ort – ebenfalls in Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts – lässt ein junger Wanderer seinen Blick in die Ferne schweifen. Wovon träumt er? Gehört er zu der Familie, die inmitten einer Wiese für ein Gruppenbild posiert. Sind die Familienmitglieder tatsächlich so sorglos, wie es scheint?
Es sind Sonntagsbilder, die Erik Niedling uns zeigt. Wie aus dem Familienalbum. Nur unschärfer, vernebelt, entrückt. Und es sind Sonntagsbilder aus einer längst vergangenen Zeit, der Zeit zwischen den Weltkriegen. Eine Epoche geprägt von Aufbruch und avantgardistischem Denken. Dennoch bahnte sich zeitgleich das Dritte Reich an – mit Krieg, Elend und Völkermord.
Aus heutiger Sicht zeigen uns Niedlings Bilder eine trügerische Idylle, und unweigerlich fragen wir uns: Was ist aus dem Wanderer in Lederhosen geworden, dessen Hand sich am Hosenträger festhält. Was geschah mit den Familienmitgliedern? Was mit der schönen Frau? Sind sie Opfer? Täter? Beides?
Diese individuellen Schicksale, die spezifischen Biografien lösen sich aber gleichzeitig auf durch die Unschärfe der Gesichter und das Entrücktsein der Motive. Wenn wir die konkreten Personen betrachten, nehmen wir sie deswegen auch wahr als Repräsentanten ihrer Zeit. Dann können erzählte, erlebte, gelesene Erinnerungen der Betrachter auf die dargestellten Personen übertragen werden, auf ihre Ausflüge in die Landschaften und zu den Denkmälern ihrer Zeit.
Erik Niedling nimmt für seine Projektionsflächen historische Fotografien, die er als 13-jähriger Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern gefunden hat. Heute, etwa zwei Jahrzehnte später, hat Niedling diesen Fund gesichtet, vierzehn Motive daraus zu der Serie Archiv zusammengefügt, sie bearbeitet und in sein eigenes künstlerisches Werk integriert.
Die ausgewählten schwarz-weißen Glasplatten im Format 9×12 cm und 12×9 cm zeichnen sich durch einen stimmigen Bildaufbau aus. Die Längen im Bild stehen zueinander im harmonischen Verhältnis von 2:3 und orientieren sich damit an den Regeln des ›Goldenen Schnitts‹. Wege und Flüsse, Denkmäler und Personen werden so in die Bildkomposition eingebaut, dass sie zu bildgestaltenden Elementen werden.
Sieben hochformatige und sieben querformatige Glasplatten hat Niedling in vollem Format gescannt und auch die Kratzer und Flecken der historischen Orginale übernommen. Niedling behält davon jeweils ein digitales Orginal, das unbearbeitet bleibt, und erzeugt digitale Kopien, die er verändert. Die Kopien macht er transparent, unscharf oder auch dunkler. Schließlich schichtet er das ursprüngliche Motiv und die bearbeitete Versionen digital übereinander. Schichtet so Vergangenes um in die Gegenwart.
Den historischen Sonntagsfotos aus der Zeit zwischen den Weltkriegen hat der Künstler eine zeitgenössische Relevanz gegeben. Aus den dokumentarischen Bildern eines ambitionierten Hobbyfotografen hat Erik Niedling so authentische Projektions- und Erinnerungsflächen gemacht, die durch die Unschärfen poetisch und malerisch wirken, durch das hinzugefügte tiefe Schwarz aber auch bedrohlich und schwer sind. Der Künstler hat die ehemals privaten Motive universeller gemacht, trotzdem ihren Ursprung erhalten und seine Arbeit Archiv genannt.
Die kleinformatigen Familienfotos haben durch Niedling ihren privaten Raum verlassen. Er präsentiert die Motive als mit Plexiglas beschichtete Wandbilder in den Formaten 90×120 cm und 120 90 cm und verleiht ihnen so eine gewaltige, ambivalente, ja magische Präsenz.
Niedlings konzeptionelle und ästhetische Vorgehensweise in seiner Serie Archiv regen den Betrachter der Motive an, sich damit auseinanderzusetzen, dass jede Gegenwart unweigerlich zur Vergangenheit wird und die Zeit dazwischen unberechenbar bleibt. Vergangenes wird umgedeutet, neu bewertet, manchmal auch vergessen. Und die Konturen der Erinnerung können dabei verschwimmen zwischen Dichtung und Wahrheit.
(Ute Noll)