Michael Wesely

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Michael Wesely

Langzeitbelichtung und die trübe Dimension der kontemporären Stadt

Das Verfahren der Langzeitbelichtung bei den fotografischen Arbeiten von Michael Wesely erteilt ihnen eine besondere Singularität innerhalb des Panoramas der zeitgenössischen Kunst. Eine Singularität, die aus einer neuartigen Verbindung zwischen technischem Können und ästhetischer Intention entspringt, wodurch es ermöglicht wird, die traditionellere Poetik der Fotografie zugunsten der Formulierung eines neuartigen, besonders intensiv auf die Erfahrungen in den Städten der kontemporären Welt eingestimmten visuellen Paradigmas umzukehren.

Parallel zu dem starken Wachstumsprozess der großen europäischen Metropolen im neunzehnten Jahrhundert entstanden, diente die Fotografie vom Anfang an als Instrument für die Registrierung des urbanen Lebens, da es ihr gelang, Szenen des Alltags mit einer viel größeren Agilität und Schärfe aufzunehmen, als die der Maler, und somit visuell das zum Ausdruck bringen konnten, was Baudelaire als die erste markante Erfahrung der Moderne bezeichnete: die Sicht des Flaneurs. Daher stammt die historische Berufung der Fotografie zur Erfassung des „entscheidenden Augenblicks“, also zur rastlosen Suche nach momentanen Schnappschüssen, die unstabile Situationen mit großer Universalisierungsfähigkeit zu enthüllen vermögen. Dies führte dazu, dass die Fotografie während langer Zeit innerhalb einer Grenzzone zwischen Kunst und journalistischem Report verblieb, das heißt, zwischen der Möglichkeit einer ästhetischen Transzendenz und der schieren faktischen Dokumentierung alltäglicher Geschehnisse.

Die künstlerische Arbeit Michael Weselys geht von einer tief greifenden Kritik der Verdammnis der Fotografie zu einer buchstäblichen und beschränkten Poetik aus. Durch den Versuch, durch eine Art Annäherung der Fotografie an den Film die zeitliche Dimension im fotografischen Augenblick einzugliedern, erbaute Wesely einen unter den zeitgenössischen Künstlern absolut originellen Weg, wobei er das Medium gleichzeitig mit der narrativen Form revolutionierte. Gerade hier liegt der große Unterschied zwischen seiner Arbeit und der anderer Fotografen aus seiner Generation, die auch einen Bruch mit dem modernen Formalismus versuchten, dabei aber ausschließlich auf der narrativen Ebene agierten, und zwar über die Aufnahme von willkürlich banalisierten, chromatisch saturierten Szenen, in der Nähe sei es einer Poetik der Trostlosigkeit und der Ruine, sei es eines fast fantastischen Hyperrealismus. Dank eines über die einfache thematische oder narratorische Ausbeutung der Fotografie hinausgehenden Schrittes agieren die langzeitbelichteten Arbeiten Weselys, ausgehend aus einem tiefen, dem Trägermaterial inhärenten Selbstbewusstsein, wobei sie die Möglichkeiten der Fotografie als Kunst neu erfinden.

Das Verfahren der Fotografie durch Langzeitbelichtung wurde von Michael Wesely durch die Präparation von Sonderkameras geschaffen, in denen eine Filterkombination die Aufnahme des Bildes enorm verlangsamt und somit erlaubt, dass die Einregistrierung der Szenen sich auf einen längeren Zeitraum ausdehnt. Das Ergebnis ist ein einziges Bild, auf dem alles, was sich während der gesamten Zeit, in der der Verschluss offen war, vor der Kamera befand, dargestellt wird. Allerdings dargestellt in einer sehr singulären Weise: in der Form einer simultanen Überlappung von bildlichen Schichten unterschiedlicher Bildschärfe, wie in einem sonderartigen Palimpsest. Denn die Fotografie fixiert besser statische, dauerhafte Dinge, während die transitorischen Dinge in unendlichen Schattierungen von Opazität und Transparenz verrauchen und somit ein spektrales Bild zusammenstellen. Weit entfernt von einem wortwörtlichen Realismus, bestehen seine Fotos dementsprechend aus einer Sukzession von sich verräumlichenden Zeitschichten, über die, durch die enorme Verzögerung des Augenblicks des fotografischen Klicks, der etliche Stunden, sogar Tage, Wochen, Monate oder Jahre andauern kann, Wesely der zeitlichen Dauer einen erstaunlich greifbaren Zug verleiht, der zuvor dem diachronischen Universum der Fotografie fremd war.

Die von Michael Wesely vollbrachten langzeitbelichteten Fotos bergen das reichhaltige Paradoxon der Einheit/Vielfalt in sich, da es sich um einzelne Bilder handelt, die in einer nicht sequenziellen Form aufgenommene, lange Geschichten mit sich bringen. Wäre es also, davon ausgehend durchaus möglich, sie als synthetische Bilder zu verstehen? Ja und nein, würde ich behaupten. Nein – im Sinne, dass sie die Idee der Synthese als selbstverständliches Resümee einer komplexen Situation kritisieren, und letztlich den illusorischen Charakter jeglicher synthetischer Handlung in der heutigen Zeit demaskieren. Aber auch ja – exakt in dem Maße, in dem diese gleiche Kritik uns die Möglichkeit eröffnet, offene, fragmentäre, spannungsfreie Synthesen uns vorzustellen, bestehend aus nicht direkt lesbaren Erzählungen, die sich eher auf nebulösen Begriffen der Intrige und der Vernetzung beziehen als auf eine kausale Teleologie.

In diesem Sinne, trotz des sehr schönen plastischen Eindrucks seiner Bilder, stemmen sich seine Fotos energisch gegen den verdinglichten Sinn des Bildes im Spätkapitalismus (1) , angesichts der Tatsache, dass sie den gesamten materiellen Prozess hinter der Szene als Endprodukt einer produktiven und zeitlichen Kette an das Tageslicht bringen. Die Arbeiten Weselys entkräftigen die Tiefe der fotografischen Poetik, in dem sie die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft enthüllen, welche schillernde Bilder mit mangelnder historischen Tiefe anbetet. Daher die Tatsache, dass Michael Wesely sicherlich einer der am meisten befähigten Künstler ist, um die komplexe und trübe Dimension der kontemporären, ›generisch‹ (2) genannten Stadt zu registrieren und anzuspannen, sowie ihre vielfältigen, insbesondere in Werken größeren Maßstabs eingetragenen Verwandlungen.

Eine der Arbeiten, welche diese Frage am besten entwickeln, ist diejenige, in der die Umgestaltung des Potsdamer Platzes in Berlin beobachtet wird, durch Fotos mit unterschiedlicher Dauer, die sich manchmal auf mehr als zwei Jahren ausdehnen und zwischen 1997 und 2000 aufgenommen wurden. Durch die Installation von Kameras an fünf versteckten und privilegierten Plätzen, zwecks der Beobachtung der Entwicklung der Bauarbeiten, stellte Wesely ein Set mit verschiedenen Gesichtspunkten zusammen. Unter der Leitung eines Gesamtplans von Renzo Piano, in dem Projekte mit der Unterschrift wichtiger Architekten aus dem weltweiten Star System einbegriffen waren, bewegten die Bauten innerhalb des von der Potsdamer Strasse und dem Leipziger Platz gebildeten Ensembles nicht nur messbare Tonnen von Erde, Stahl, Beton und Glas, sondern auch größere Erwartungen in Hinsicht auf das neue städtische Antlitz der kapitalistischen Welt am Aufgang des 21. Jahrhunderts, da es dabei nicht nur um ein für das vereinte Deutschland, sondern auch für die Europäische Gemeinschaft und, letztendlich, für die neue eindimensionale Welt ausschlaggebendes Symbol ging, das nach dem Fall der Berliner Mauer entstand – die ja bekanntlich mitten durch diesen Platz ging und ihn während den vorangegangenen 28 Jahren seiner Existenz aus den Landkarten verdrängte.

In Anbetracht einer solchen Komplexität und eines solchen symbolischen Gewichts ist das durch diese Arbeit Weselys gewonnene Ergebnis erstaunlich profund. Was wir dabei beobachten können, ist eine Vernetzung von übereinandergestülpten Formen von im Bau sich befindenden Gebäuden, die sich in spektralen Formen verschmelzen, mit der Skyline der Stadt als Hintergrund, mit Kränen und Gerüsten überall, gebrochene Lichter und Scheine, und der bewegten Abzeichnung des Sonnenweges auf dem Himmel entlang den Jahreszeiten. Das heißt, Wesely vermag in dieser Reihe auf eine schneidende Weise eine eher illusorische als reale Wiedervereinigung darzustellen, in dem er sie als eine Sammlung von ineinander verflochtenen, fragmentären, innerlich gebrochenen räumlich-zeitlichen Schichten darstellt, die uns jederzeit als eine mächtige Phantasmagorie der Gegenwart ausfragen.

Durch die Schaffung eines provokativen Amalgams zwischen technischen und natürlichen Elementen, wie Bauplatten und Erdarbeiten, oder verspiegelte Glasscheiben, tausende Widerspiegelungen und die konkrete Bewegung der Sonne auf dem Himmel, zeigen uns seine Fotografien städtische Ikonografien, in der Nähe des Universums dessen, was der französische Anthropologe Bruno Latour die neue Hybridisierung zwischen Wissenschaft und Natur der heutigen Tage nennt, durch Überwindung des dichotomischen Modells, das als richtungsweisend für die Modernisierung der Aufklärung galt. (3) Hinter dieser unverkennbar kontemporären Linse porträtiert und wiederbedeutet Michael Wesely die neuen Megaoperationen der städtischen Verwandlung weltweit, bei denen wichtige Ingenieure und Architekten sich nicht länger an die Begrenzungen der Probleme des Territoriums und der Infrastruktur hielten, sondern zu Zentralachsen des Imaginären und der Massenkultur wurden.

So wie die Fotografie historisch mit der Berufung auf einen Zusammenstoß mit dem städtischen Raum entstand, ist es heute so, dass durch die Arbeiten Michael Weselys sich diese Berufung, auf neuen Fundamenten aufbauend, auf einer akuten Weise darstellt, denn im gleichen Maß, in dem die enorme Beschleunigung der Kommunikation und der Versetzungen die städtische Erfahrung drastisch akzeleriert, bewegt sich die Arbeit Michael Weselys genau im Gegenverkehr zu dieser Erfahrung und bremst immer wieder die halluzinierte Behändigkeit des gegenwärtigen Flaneurs, anhand einer verlangsamten und entspannten Sichtweise, die heutzutage die Fähigste ist um die subterranen, in der immer stärkeren und weniger sichtbaren Gefräßigkeit der städtischen Prozesse implizierten Dimensionen zu verstehen, die weltweit auf dem Aufmarsch sind.

(Guilherme Wisnik, Architektur- und Kunstkritiker)

Index
1) Fredric Jameson, Postmodernism, or, the cultural logic of late capitalism. Durham: Duke University Press, 1991.
2) Rem Koolhaas, ›The generic city‹, S, M, L, XL. New York: The Monacelli Press, 1995, S. 1238–1264.
3) Bruno Latour, Nous n'avons jamais été modernes. Paris: Éditions La Découverte, 1991.

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