Haben Räume ein Gedächtnis? In Dirk Brömmels Fotoserie der Villa Tugendhat scheint dies der Fall zu sein. Die Villa Tugendhat wurde 1929 von Mies van der Rohe für die Familie des Textilfabrikanten Fritz Tugendhat gebaut. Noch heute zählt sein offenes Raumkonzept zu den Meilensteinen der Geschichte der modernen Architektur. Die hohen Fenster lassen sich vollständig im Boden versenken, die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum lösen sich auf.
Genauso durchlässig erscheinen die Zeitebenen in Brömmels Fotoarbeiten von der Villa Tugendhat. Heute ist das Gebäude im tschechischen Brno ein Museum. Als Brömmel es besichtigte, fand er außer in alten Fotoalben der Familie Tugendhat keinerlei Hinweise, dass in diesen Räumen einmal Menschen gewohnt und gelebt haben. Mit Hilfe der Sandwichtechnik legte er die historischen Bilder der Tugendhats über seine aktuellen Aufnahmen von den Räumen. Und plötzlich wurden Erinnerungen sichtbar: Zwei kleine Kinder sitzen vor den Fenstern der alten Villa, auf dem Couchtisch stehen Raucherutensilien der 30er Jahre und im Wohnzimmer feiert die Familie Weihnachten. Dem Betrachter wird ein Blick in die Vergangenheit gewährt, die Bilder lassen ihn teilhaben an längst vergessenen Ereignissen.
Da die Bildebenen nicht exakt aufeinander liegen, sondern leicht versetzt montiert wurden, wird gleichzeitig auch die museale Leblosigkeit, welche die Räume heute ausstrahlen, sichtbar. Brömmels Arbeiten faszinieren und irritieren zugleich: Man fühlt sich emotional angesprochen – von Aufnahmen einer völlig fremden Familie. Hier werden Erinnerungen sicht- und spürbar, die nicht die eigenen sind. Und trotzdem fühlt man sich hineingezogen, möchte teilnehmen an dem Leben vergangener Kindertage. Oder ist es die Sehnsucht nach der eigenen Kindheit, die hier angesprochen wird? Die Familienszenen bleiben oft unscharf, sie wirken schemenhaft. Sie erinnern an Bilder aus Träumen: Ein kurzes Aufleuchten einer längst vergessenen Begebenheit, ein schneller Blick in die Tiefen des Gedächtnisses. Er lässt sich nicht festhalten, dieser Augenblick. In Brömmels Arbeiten gelingt dies, auch wenn man das Gefühl nicht los wird, im nächsten Moment verschwindet die feiernde Familie samt Schaukelpferd und Weihnachtsbaum wieder hinter der Onyx-Wand, und man steht vor einem perfekt ausgeleuchteten Architekturfoto von der Villa Tugendhat.