Das Ruhrgebiet ist zweifelsohne eine der Regionen Deutschlands, von der fast jeder ein Bild im Kopf hat. Dieses wird zwar immer differenzierter, bleibt aber dennoch in erster Linie von alten Vorurteilen geprägt. Kohle, Stahl, Ruß und Schweiß sind die alten Bilder, die sich hartnäckig in den Köpfen der Menschen halten. Und zugegebenermaßen ist es schließlich diese Industrie-geschichte, welche die Region am nachhaltigsten geprägt und verändert hat. Aber das Ruhrgebiet ist auch eine Region des Wandels. Nur noch wenige Bergwerke fördern Kohle und das Auslaufen des Bergbaus ist für das Jahr 2018 beschlossen. Eisen- und Stahlproduktion, Chemie und fast unbemerkt die Textilindustrie sind ebenfalls zurückgegangen. Hoffnungsvolle Neuansiedlungen wie zum Beispiel Nokia haben inzwischen ihre Betriebsorte verlegt und die Zukunft von Opel in Bochum bleibt ungewiss.
Diesem äußeren Niedergang folgte anfangs ein mentaler, dem erst in den Zeiten der IBA Emscherpark Bilder des Aufbruchs entgegengesetzt werden konnten. Die IBA leitete einen Bewusstseinswandel ein, indem sie die Orte des Auflösens umwertete und damit auch international für eine veränderte Wahrnehmung sorgte. Aus Eisenhüttenwerken wurden Parks, aus Gasometern Ausstellungshallen, aus Zechen Weltkulturerbe, aus Abwasserkloaken Freizeitraum, aus Halden Landmarken. Dieser Wandel fand zwar primär in den Projekten statt, aber gerade Fotografie wurde zum Hauptkommunikationsmedium, zum Bildschaffer und Spiegel, und an manchen Stellen auch zum Instrument einer Neudefinition der Region – nach außen, wie nach innen. ›Wandel ohne Wachstum‹ propagierte IBA-Geschäftsführer Karl Ganser das Ideal, das sich auch gerade im Nachhinein als besonders tragfähig erwies. ›Nachhaltigkeit‹ heißt das Zauberwort inzwischen. Diesem Ideal folgten viele Fotografen. Sie schrieben in ihren Bildern Orten Qualitäten zu, die es zu stärken galt, ohne auf die Darstellung von Defiziten, die es zu beseitigen galt, zu verzichten. So wurden Fotografen erstmals Teil einer realen Veränderung, denn Veränderung ohne Veränderungswillen kann nicht funktionieren. Schade, dass diese Bildwelt in der Nach-IBA-Zeit so schnell zu verschwinden drohte. Die Bildplattform war nicht mehr vorhanden und Tourismusmanager versuchten ihre eigenen und zwangsläufig wenig kritischen und inhaltsleeren Bildwelten durchzusetzen.
In dieser Zeit und im Nachgang zur IBA Emscherpark, und vielleicht auch im Vorgriff auf die entstehende Kulturhauptstadt, fanden sich Fotografinnen und Fotografen, um ihre Positionen auf einer gemeinsamen und eigenen Plattform unter dem Titel Pixelprojekt_Ruhrgebiet sichtbar zu machen. Das Internet machte internationale Kommunikation auch mit kleinem Budget möglich. Das bürgerschaftliche Engagement dieser Kreativen war ihre Verbindung und das zentrale Unterscheidungsmerkmal und trat an die Stelle des für viele so bestimmenden künstlerischen und zum Teil gar egomanen Selbstverwirklichungsdrangs. Gibt es Bilder, denen wir folgen, weil wir es wollen? Sind diese Bilder identisch mit denen der Hochglanzbroschüren, die ohne Brüche und ohne Glaubhaftigkeit sind? In den tatsächlichen Bildern des aktuellen Ruhrgebietes sehen wir, dass in den Eingeweiden ehe-maliger Schwerindustrie neue Welten entstanden und jetzt beheimatet sind: Im Stahlwerk finden sich Forschungslabore für mikrooptische Hochtechnologie und Solartechnik. In den Kanälen, die dem Transport von Kohle und Erz dienten, führen Hindus rituelle Waschungen durch, Kokereien werden nachts zu Orten der Kunst mit Licht, Industriehallen zu Opernhäusern oder Ausstellungshallen, Parkhäuser zum Stadtstrand und Wiesen zu afrikanischen Erlebniswelten. Wir spüren vor Ort die neue Kraft einer Generation von Künstlern, Planern und sogar Politikern mit geschichtlichem – oder genauer industriegeschichtlichem – Selbstbewusstsein: neue Kraft zu innovativer Transformation, wie sie an keinem anderen Ort Deutschlands zu finden ist. Ein Forschungslabor für den Wandel einer Industriegesellschaft zu einer noch unbekannten Zukunft, in welcher Kultur die Schüssel-stellung gesellschaftlicher Entwicklung einnehmen kann und vielleicht auch muss. Aber zur Definition des Heute gehört genauso das Gestern. Denn wie will ich die Gegenwart verstehen, wenn ich deren Entstehen und deren Entwicklung nicht kenne?
Generationen von Fotografen haben sich mit der Welt auseinandergesetzt. Die einen romantisierend und abbildend, die anderen kritisch suchend und forschend. Die Region Ruhrgebiet mit ihren Widersprüchen, mit ihrer anderen Schönheit und ihrer gewöhnlichen Hässlichkeit, stand dabei immer im Fokus der Autorenfotografen aus der ganzen Welt. Arm ist die Region an Reibungsflächen sicherlich nicht, an friedlicher Harmonie schon eher – kein Ort also des Zurücklehnens, sondern des Zupackens und Gestaltens. Es ist diese Widersprüchlichkeit, die vielleicht als besondere Quelle der Inspiration zu besonderen Bildern führt.
Pixelprojekt_Ruhrgebiet sammelt diese Bilder, die im Laufe von Jahrzehnten als Produkt der seriellen Auseinandersetzung einzelner Fotografinnen und Fotografen mit Themen der Region entstanden sind. Als autonomes Kunstprojekt in den Händen der Fotografen bildet es dabei ein Gegengewicht zu den üblichen Instrumenten des lediglich ›bebildernden‹ Regionalmarketings und schafft gleichermaßen Aufmerksamkeit durch künstlerische Qualität, wie Glaubhaftigkeit durch Unabhängigkeit. Und mehr noch, es betreibt visuelle Forschung nach Ursprung und Ziel einer regionalen Entwicklung, ohne dabei Antworten liefern zu können, aber mit neuen Bildern für neue Entwicklungen. Und Bilder brauchen wir zur Fixierung unserer Gedanken.
Pixelprojekt_Ruhrgebiet ordnet diese Bildserien, bringt sie in eine thematische und chronologische Struktur und macht sie auf einer Internetseite überhaupt erst sichtbar. Einmal pro Jahr werden die Neubewerbungen durch eine Jury von anerkannten Kunst-, Fotografie- und Regionalfachleuten in das Projekt aufgenommen. Im Laufe der Jahre entsteht ein fotografisches Gedächtnis der Region, das Mythen einer vergangenen Zeit mit visionären Bildern des Kommenden in Beziehung setzt. Pixelprojekt_Ruhrgebiet ist ein digitales Projekt, das in seiner Größe und Dimension nur im Internet sichtbar zu machen ist. Dennoch geht es um die Originale, die in verschiedenen Ausstellungen gezeigt werden und den Bildkosmos hinter der Internetseite erst deutlich machen. Mit seinen vielen Aktivitäten stößt das Projekt die Möglichkeit eines kritischen und öffentlichen Dialogs an, den man annehmen oder verweigern, sich aber auf gar keinen Fall verschließen kann. Denn wie schrieb der Zukunftsforscher Robert Jungk 1988: »Unentbehrliche Voraussetzung jedes demokratischen Veränderungsbemühens ist die nie aufhörende Information einer breiten Öffentlichkeit«.
Und wie kann man mehr Menschen erreichen als über das Internet und über die sprachunabhängigen Qualitäten von Fotografie. Die digitale Sammlung besteht mit den Neuaufnahmen 2009-2010 aus 315 Fotoserien von 197 Fotografinnen und Fotografen mit insgesamt mehr als 5.500 Einzelfotografien und macht das regionale Gedächtnis der Region und seines Wandels auch im Hinblick auf die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 zunehmend deutlich.
(Peter Liedtke)