Annette Schreyer

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Annette Schreyer

I am not me

In manchen der Kliniken, in denen Patienten mit Essstörungen behandelt werden, gibt es keine Spiegel. Gibt es welche, so sind sie mit Stoffen verhangen oder mit Papier überklebt. Einmal die Woche werden die Mädchen vor einen Spiegel geführt. Sie sollen ihr Spiegelbild beschreiben, ihre von der Krankheit verzerrte Wirklichkeit. Sie sehen einen gigantischen Körper, wo doch oft nur noch Haut und Knochen übrig sind.

Die Mädchen und Frauen erzählen mir, sie könnten sich nicht mehr erkennen. Die Figuren, die sie sehen, das sind nicht sie selbst, die viel zu grossen Augen mit dem leeren Blick, sie finden sich nicht mehr darin. Sie bitten mich, ihnen zu zeigen, wie sie ›wirklich‹ sind. Sie kennen nur noch die Krankheit und das, was diese ihnen vorgaukelt. Sie haben den Blick für ihr Leben verloren, Essen oder Hungern stehen im Vordergrund ihrer Realität. Nun wollen sie einen Schritt zurücktreten, sich vor ein Objektiv begeben, ja, sich ›objektiv‹ betrachten lassen, um sich selbst wieder eine Annäherung an die Wirklichkeit zu ermöglichen. Sie sind auf der Suche nach der Wahrheit, nachdem sie an einem Punkt angelangt sind, in der die eigene, konstruierte Welt kein Leben mehr zulässt: Die Verweigerung der Nahrung als Verneinung des Lebens. Aber auch Essen als vermeintlicher Ausweg, als Zentrum des Daseins. Für viele hat das Essen jahrelang über ein Leiden hinweggetäuscht, und ihr gemarterter Körper ist zum Ausdruck ihres Leides geworden. Sie wollen mit Hilfe meiner Kamera ›der Wahrheit ins Auge sehen‹, entblösst und ungeschützt möchten sie von mir fotografiert werden.

Die Fotografie ist nie objektiv, sie repräsentiert gleichsam eine subjektive Wirklichkeit, ist immer Ausschnitt des Lebens und Interpretation. Und doch erleben die Patienten ihre Abbilder als wahrer als das, was sie im Spiegel sehen. Der Moment, da sie die Fotos von sich zum ersten Mal sehen durften, war für sie ein Moment der Wahrheit: schrecklich, und gleichzeitig ein mutiger Schritt zurück ins Leben.

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