Das Material erinnert an zum Schweigen gebrachte Entführungsopfer, an die zusammengebundenen Mäuler gefangener Alligatoren in Florida, aber auch an diverse provisorische Reparaturen. Gewebeband oder Gaffa wird konventionell in der Filmindustrie und der Musikbranche verwendet. Meist werden Kabel damit fixiert, um am Set oder auf der Bühne Stolperfallen zu vermeiden. Gewebeband kann aber auch Material für künstlerische Arbeiten sein.
Claudia Christoffel überklebt Fotografien partiell mit Gewebeband. Doch selbst wenn sie Teile einer Bilderzählung zum Schweigen bringt, so ist der Gestus der Überklebungen nicht gewalttätig, sondern erscheint wohlüberlegt und präzise in der Komposition. Am Anfang verwendete sie Fundstücke vom Flohmarkt, die in Ausschnitten schwarzweiß reproduziert und mit schwarz-, weiß- oder silberfarbenem Klebeband überarbeitet wurden. Ein Beispiel dafür ist die Diplomarbeit Gaffadream 2004 - 2005, die mit dem Preis Gute Aussichten – junge deutsche Fotografie 2006 ausgezeichnet wurde (www.gute-aussichten.org). Seit 2006 nimmt sie zunehmend eigene Fotografien. Das Klebeband reicht jetzt weit über die Fotografien hinaus, wie in der Arbeit Chile 4. und 5. Region von 2006. Seit 2007 erweitert sich die Werkreihe durch Farbfotografien mit verschiedenfarbigem Klebeband.
Claudia Christoffel interessiert das Spannungsverhältnis von Verborgenem und Sichtbarem. Im Allgemeinen ist der Mensch auf das Sichtbare konditioniert. Entsprechend herrschte in den Wahrnehmungstheorien lange Zeit ein Konsens, dass Sichtbarkeit auch gleichzeitig Macht bedeutet. Neuere theoretische Ansätze hinterfragen die Binarität Macht/Sichtbarkeit sowie Ohnmacht/Unsichtbarkeit. Denn Unsichtbarkeit kann eine Machtposition auch stärken, indem Informationen nur einem exklusiven Kreis zugänglich gemacht werden. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit etwas Widersinnigem: der Repräsentation des Verborgenen. Die Überklebungen sind visuelle Leerstellen, die den Betrachter stolpern lassen. Man bleibt geradezu an ihnen kleben. Sie dienen als Projektionsfläche für die eigenen Fantasien. Doch Vorsicht: die in die Fotografien eingeklebten Partien sind eigenständiger als es scheinen mag. Denn bei einem großen Teil der Überklebungen befindet sich unter dem Gewebeband ein ganz anderer Gegenstand als der Umriss der Überklebung vermuten lässt oder sogar Nichts. Diese Werkreihe bringt eine Ikonologie des Zwischenraumes hervor. Es ist der Bildraum der subjektiven Distanz, wo sich spezifische Reflexionsformen entfalten können. Denn die Leere sehen heißt, etwas in die Wahrnehmung aufnehmen, das in sie hineingehört, aber abwesend ist; es heißt, die Abwesenheit des Fehlenden als eine Eigenschaft des Gegenwärtigen zu sehen.